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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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gut gebaut ist, erweckt sie einen zerbrechlichen Eindruck, was durch ihr unterwürfiges Gebaren nur noch verstärkt wird.
    Ich stellte mich ihr vor.
    Sie sah mich kurz an und wandte den Blick dann sogleich ab, als gefiele ihr nicht so recht, was sie da vor sich hatte. Ich bat sie, mir von sich zu erzählen.
    Â»Ich gehe in die zehnte Klasse der Ordensschule der Jungfrau Maria.« Danach verfiel sie sogleich wieder in Schweigen. Ich konnte sehen, wie sich auf ihrer Oberlippe winzige Schweißtröpfchen bildeten. Sie erwähnte mit keinem Wort ihre Familie, möglicherweise bereitete der Gedanke an sie ihr unerträgliche Seelenqual.
    Â»Welche Fächer?«
    Â»Literatur, Geschichte … Computer. « Sie sprach beinahe im Flüsterton. Ihr Englisch war akzentfrei, was ich als weiteres Anzeichen dafür wertete, dass ihre Eltern zur oberen Mittelschicht von Punjab gehört hatten, in der man sich um eine gepflegte Sprache bemühte, die keinen Hinweis darauf gab, aus welcher Gegend man stammte.
    Â»Durga …« Ich streckte den Arm aus, um leicht über ihre Hand zu streichen, doch sie zog sie so jäh zurück, als hätte ich sie geschlagen. An ihrer Schulter fiel mir eine kleine Tätowierung auf, die mich neugierig machte, doch als sie das bemerkte, bedeckte sie die Stelle rasch mit ihrem Kopftuch. Doch dabei entdeckte ich zum ersten Mal ein Leuchten in ihren Augen. Sie schien zu lächeln. Aber möglicherweise war es auch bloß ein nervöses Zucken ihres Mundwinkels gewesen.
    Â»Ich bin hier, um dir zu helfen, Durga. Ich werde von nun an jeden Tag kommen, und wir werden nur über Dinge reden, die dir recht sind. Hast du etwas Besonderes auf dem Herzen?«
    Â»Wie lange muss ich hier drin bleiben?«, fragte sie mit leiser Stimme, den Blick auf den staubigen Fußboden gesenkt.
    Â»Die Antwort darauf kenne ich leider nicht, aber lass uns hoffen, dass es nicht gar so lange sein wird. Gibt es etwas, worüber du mit mir sprechen möchtest?«
    Sie senkte den Kopf und sagte nichts. Danach zog sie sich vollkommen in sich zurück und starrte nur noch auf den Fußboden, als wäre in den quadratischen Bodenfliesen eine Bedeutung verborgen, die ihr Kopfzerbrechen bereitete. Ich gab ihr Papier und Stift, bat sie, alles aufzuschreiben, was sie mir möglicherweise mitteilen wollte, und berührte sie flüchtig an der linken Schläfe.
    Wie jung sie noch war! Der Gedanke traf mich wie ein Paukenschlag. Ich kam einfach nicht darüber hinweg. Über all die Jahre war ich immer wieder Jugendlichen begegnet, die der scheußlichsten Verbrechen fähig gewesen waren, und doch machte es mich jedes Mal wieder traurig – diese verlorene Kindheit und Jugend. Bei sehr, sehr wenigen Gelegenheiten wurden diese Minderjährigen freigelassen und durften ihrer Wege gehen, doch die meisten von ihnen wuchsen hinter Gittern auf. Trotz all meiner Bemühungen, ihnen etwas beizubringen, sie dazu zu überreden, Yogaübungen zu machen, sie für Musik und Gesang zu interessieren oder sogar für das Theater, wusste ich doch, dass sie fast alle nur auf eine Möglichkeit warteten, sich an der Gesellschaft zu rächen, die sie jener einen Sache beraubt hatte, die sie nie wieder würden zurückerlangen können – ihrer Kindheit.
    Ich musste raus aus diesem klaustrophobischen Raum, aus dieser klaustrophobischen Stadt. Ich brauchte dringend ein kaltes Glas Bier. Aber ich wusste, dass es in Jullundur ein Skandal wäre, als Frau in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Während der Zeit der Terroranschläge hatte man die Frauen der Gegend sogar unter Drohungen gezwungen, ihre Köpfe zu bedecken und an Stelle ihrer Jeans nur traditionelle Kleidung zu tragen. Die Menschen hier waren auch nicht besser als die Taliban.
    Nun ist es früh am Morgen, und ich liege im Bett meines muffigen Gästezimmers, aber ich höre noch immer Durgas Stimme, gedämpft vom Kummer oder vielleicht auch von ihrer Ratlosigkeit angesichts der Karten, die das Leben ihr zugeteilt hat. Ich kann nur hoffen, dass es in den kommenden Wochen besser mit ihr gehen wird. Zum ersten Mal in meinem Leben zweifele ich an meiner Kompetenz, mit einer Situation umzugehen. Erinnert Durga mich etwa an mich selbst, als ich vierzehn Jahre alt war? War ich da nicht ebenso verwirrt, ebenso bedrückt gewesen? Hätte ich damals einen anderen Menschen töten können?
    Ich drücke die
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