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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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ist ein sehr komplizierter Fall.« Ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hätte, setzte er sich vor mich hin, zog die messerscharfen Bügelfalten seiner Hose nach und schlug ein wenig geziert die Beine übereinander. Seine blankgewienerten schwarzen Stiefelspitzen glänzten in der Nachmittagssonne wie zwei Scheinwerfer. Er schielte in die Akte. »Wird Ihnen bei diesen Bildern nicht schlecht? Wenn Sie an jenem Tag selbst in dem Haus gewesen wären … Wenn ich Ihnen das beschreiben würde …« Er verzog das Gesicht und wandte kurz den Blick ab. Er war zwar geschwätzig, schien mir aber wohlgesinnt zu sein.
    Â»Ja, bitte tun Sie das. Ich habe mich gestern mit dem Mädchen getroffen. Sie scheint ziemlich traumatisiert zu sein. Was, glauben Sie, hat sich dort wirklich zugetragen, Mr… wie war noch gleich …?«
    Â»Sagen Sie doch Ramnath zu mir. Was wissen Sie über Durga?« Er schlug eine andere Akte auf.
    Â»Eigentlich kaum etwas. Sie ist vierzehn und stammt aus einer vermögenden Familie …«
    Â»Einer sehr, sehr vermögenden Familie.«
    Â»Sie geht noch zur Schule … und ist möglicherweise vergewaltigt worden.«
    Â»Wir wissen nicht, ob es eine Vergewaltigung war. Aber sie hatte auf jeden Fall Geschlechtsverkehr.«
    Â»Oh … hatte sie denn … hatte sie einen Freund?«
    Â»Sie hätten ihr die Kehle durchgeschnitten, wenn das der Fall gewesen wäre! Also hat sie vielleicht ihnen die Hälse durchgeschnitten, bevor sie es bei ihr machen konnten!« Noch während Ramnath Singh das sagte, musste er schon lachen – auch wenn es mehr wie ein schrilles Wiehern klang.
    Ich schluckte meinen Unmut hinunter. Irgendetwas an diesem auf Hochglanz polierten Polizeioffizier verunsicherte mich. Er erinnerte mich an all die Männer aus kleinen Provinzstädten, die ich in meinem Leben hatte kennen lernen dürfen: Männer, die nur einen einzigen Blick auf eine Frau warfen und dann sofort zu wissen glaubten, dass sie eine von dieser oder jener Sorte war. Ich gewann den Eindruck, dass Ramnath Singh sich mir gegenüber nur so zuvorkommend verhielt, weil man es ihm eingeschärft hatte – ob es ihn wurmte, dass ich mich in einen Fall einmischte, der eigentlich als abgeschlossen galt? Und würde er mich dann wirklich in sämtliche Informationen einweihen? Ich war diese Reaktion gewohnt: Menschen, die wussten, wer ich war, behandelten mich wie einen sozial veranlagten Schmetterling, der vorübergehend von seiner Flugbahn abgekommen war, aber schon recht bald wieder in seinen Fünf-Sterne-Schlupfwinkel zurückflattern würde.
    Â»Aber wer sollte dann …«
    Â»Diese reichen Familien sind doch alle verrückt!« Er sah mich an und machte eine vielsagende Pause, zweifelsohne, damit ich seine Aussage auch ja verinnerlichte. Reich und verrückt wie Sie . Doch als ich mich nicht davon beeindrucken ließ, fuhr er fort: »Alles ist möglich. Vor ein paar Jahren ist ihre Schwester gestorben – ebenfalls unter mysteriösen Umständen. Sie ist entweder umgekommen oder verschwunden. Wir haben ihre Leiche jedenfalls nie gefunden.«
    Er blickte versonnen auf die Bilder, die ich vor mir liegen hatte.
    Â»Ich frage mich, ob sie geahnt haben, was ihnen bevorstand. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Wir haben es hier mit einem riesigen Haus mit sieben Zimmern, einem Speisesaal, drei Veranden und einem großen Innenhof zu tun. Umgeben ist es von Gärten und Obstplantagen. Und in jedem Zimmer haben wir Leichen entdeckt. Ihre sämtlichen Angehörigen – ihren Vater, ihre Mutter, Großmutter, zwei Brüder, Tanten, Kusinen. Die Diener hatten das Wochenende über frei, damit sie einer Hochzeit beiwohnen konnten … Und überall Blut. Sie hat man erst am nächsten Morgen gefunden. Sie war mit einer Hand ans Bett gefesselt. Sie war nackt, aber am Leben.«
    Â»Und wieso ist Durga dann hier gelandet?«
    Â»Indizienbeweise. Sie hat das Gift gekauft. Und auf den Messern, die als Tatwaffe dienten, hat man ihre Fingerabdrücke gefunden.«
    Â»Aber, mein Gott, ihre Hände waren doch gefesselt.«
    Â»Sehr locker, und auch nur die eine. Allerdings hatte sie überall an den Armen Druckstellen und blaue Flecken, und ganz zu Anfang, bevor sie sich weigerte, weiter mit uns zu reden, hatte sie ausgesagt, dass sie mit beiden Händen gefesselt gewesen wäre. Aber es gibt ganz einfach keinen
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