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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende
Autoren: Kishwar Desai
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über achtzehn war und damit bereits mündig. Doch zum Glück erwies sich das Geschäft mit Damenwäsche als sehr befreiend. Als ich der Meinung war, genügend über V-Ausschnitte und gepolsterte Büstenhalter gelernt und auch den Unterschied zwischen synthetischen und natürlichen Geweben verinnerlicht zu haben – ein Unterrichtsstoff, der mir hauptsächlich während langer Ausfahrten auf einem Vesparoller, die regelmäßig in Feldern mit praktischerweise sehr hoch wachsendem Zuckerrohr endeten, nahegebracht wurde –, bekam ich das Gefühl, dass es nun an der Zeit war, weiterzuziehen.
    Und nun bin ich fünfundzwanzig Jahre später in ebendiese Stadt zurückgekehrt, immer noch unverheiratet, aber dafür Veteranin diverser Liebesbeziehungen und einigermaßen in der Welt herumgekommen, außerdem Expertin auf dem Gebiet des Strafvollzugs an Frauen – »Frauen hinter Gittern: Was Eingesperrtsein für Frauen bedeutet«, lautete der Titel meiner Abschlussarbeit –, was sollte ich also gemein haben mit einem jungen, verängstigten Mädchen, das sein ganzes Leben in diesem Provinznest verbracht hatte?
    Durga sieht älter aus als vierzehn. Ich hatte im Fernsehen schon Bilder von ihr gesehen, aber in Wirklichkeit ist sie viel dünner. Stupsnase und volllippiger Schmollmund in einem ovalen Gesicht. Als man sie in den Besucherraum neben dem Zimmer der Wärterinnen führte – ich hatte darauf bestanden, dass meine Gespräche mit ihr ohne Bewachung stattfinden sollten –, trug sie einen schlichten blauen Salwar Kamiz, eine Art Tunika über einer weiten Hose, anstatt der üblichen Anstaltskleidung. Dies war ein besonderes Entgegenkommen, welches sie dem Umstand zu verdanken hatte, dass jeder hohe Regierungsbeamte in Punjab nicht nur ihre Eltern, sondern auch sie selbst schon von Kindesbeinen an kannte. Natürlich ist es jetzt für alle peinlich, Durga in Untersuchungshaft zu wissen, und dass sie kaum mehr ist als ein Kind, machte es nur umso schlimmer. Also genoss sie eine gewisse Sonderbehandlung: besseres Essen, zivile Kleidung, gelegentliches Fernsehen. (Allerdings hat man mir gesagt, dass diese Vergünstigung wieder gestrichen worden war, nachdem sie sehr heftig auf die Berichterstattung über die Morde reagiert hatte.) Einer weiteren Gerichtsverfügung zufolge war sie in einem von den Zellen der übrigen Gefangenen abgetrennten Raum untergebracht.
    Keine dieser Vergünstigungen hatte sie bei ihren Mithäftlingen besonders beliebt gemacht, und es war ein Glück, dass sie nicht mit ihnen in Berührung kam. Das Traurige war nur, dass sie überhaupt nicht in einem Gefängnis, sondern in einem Heim für gefährdete Jugendliche untergebracht sein sollte. Leider war dieses Jugendheim aber jüngst geräumt worden, nachdem in marktschreierischen Zeitungsberichten davon zu lesen gewesen war, dass viele der Kinder und Jugendlichen dort sexuell missbraucht oder zur Prostitution gezwungen worden waren. Also hatte man Durga hierher in diesen provisorischen Kinderknast verbracht.
    Eine andere Unterbringungsmöglichkeit wäre Nari Niketan gewesen, die Besserungsanstalt für » gefallene« Frauen, doch auch davon hatte man Abstand genommen. Zu groß war die Gefahr, dass sie dort Drogenhändlern und Zuhältern ausgesetzt sein würde – so hatte man es mir jedenfalls erklärt. Meiner Erfahrung nach ist jede Institution, in der man seiner Freiheit beraubt wird, ein Hort für alle möglichen Auswüchse und Laster; doch wenn das Gericht nun einmal entschieden hatte, dass sie im Untersuchungsgefängnis untergebracht werden sollte, konnte ich nichts dagegen tun. Und solange sie sich nicht einverstanden erklärte, mit einem Anwalt zu sprechen, konnte ohnehin nichts weiter unternommen werden. Im Augenblick ist sie noch viel zu schutzbedürftig, zu traumatisiert, um zu irgendwelchen Entscheidungen gedrängt zu werden.
    Durga ist nicht unbedingt schön, aber sie hat den gesunden, rosigen Teint der meisten mit Milch und selbsterzeugten Nahrungsmitteln groß gewordenen Mädchen aus dem ländlichen Punjab. Und doch scheint es, als verkrieche sie sich wie in einem Schneckenhaus, als sie sich hinsetzt, ängstlich darauf bedacht, nur ja nicht wahrgenommen zu werden. Oder zumindest keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie trägt weit geschnittene Kleidung, und obwohl sie recht groß und
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