Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
abends geht, ist sie allein, und am nächsten Tag steht sie wieder hier.«
    »Tatsächlich? Und wie lange schon?«
    »Ich sehe sie hier seit fünf Jahren, aber ich habe einmal mit einem Bahnhofsvorsteher über sie gesprochen, der kennt sie schon seit mindestens fünfzehn Jahren!«
    »Ich glaube dir kein Wort, Ulla! Du erfindest mir einen Roman.«
    Ulla errötete – sie wird bei der leisesten Gefühlsregung puterrot –, geriet ins Stottern, lachte verwirrt und schüttelte den Kopf.
    »Ich schwöre dir, ich sage die Wahrheit. Sie kommt jeden Tag, seit fünfzehn Jahren, wenn nicht mehr, denn jeder von uns hat Jahre gebraucht, bevor er sie überhaupt wahrgenommen hat … Du, zum Beispiel, kommst seit drei Jahren immer wieder nach Zürich und hast sie heute zum ersten Mal erwähnt. Wer weiß, vielleicht wartet sie schon seit zwanzig oder dreißig Jahren … Sie hat nie jemandem geantwortet, der von ihr wissen wollte, worauf sie wartet.«
    »Das verstehe ich«, sagte ich, »wer vermag schon eine solche Frage zu beantworten.«
    Wir konnten die Angelegenheit nicht klären, da einige Presseinterviews anstanden.
    Und ich dachte dann nicht mehr daran, bis zu meiner nächsten Reise.
    Kaum ertönte im Zuglautsprecher der Name »Zürich«, fiel mir die Frau mit dem Blumenstrauß wieder ein: Ob sie auch dieses Mal …
    Tatsächlich, da stand sie, wachsam, auf Bahnsteig drei.
    Ich sah sie mir an. Helle Augen, fast quecksilberfarben, nahezu erloschen. Die Haut blass, gesund, aber gezeichnet von der Zeit. Eine hagere, rüstige Erscheinung, die einst lebhaft und kraftvoll gewesen sein musste. Der Bahnhofsvorsteher wechselte ein paar Worte mit ihr, sie nickte, lächelte liebenswürdig und schaute dann weiter unbeirrt auf die Gleise. Nichts an ihr war auffällig, außer einem Klappsessel aus Stoff, den sie bei sich hatte. Ließ das vielleicht auf eine praktische Natur schließen?
    Kaum war ich im Ammann Verlag, ich hatte die Straßenbahn genommen und mehrmals umsteigen müssen, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen.
    »Ulla, ich muss unbedingt mehr über die Frau mit dem Blumenstrauß wissen.«
    Ihre Wangen färbten sich himbeerrot.
    »Ich war sicher, dass du mich nach ihr fragen würdest, daher habe ich mich schon einmal umgehört, ich bin zum Bahnhof gegangen, habe mich mit dem Personal dort unterhalten und mit dem Mann von der Gepäckaufbewahrung angefreundet.«
    Da ich wusste, wie einfach es war, Ulla gernzuhaben, zweifelte ich nicht daran, dass sie die Leute dazu hatte bringen können, ihr möglichst viel zu erzählen. Obgleich sie barsch sein kann, ein wenig autoritär, ihre Gesprächspartner mit durchdringendem Blick ansieht und eher spröde wirkt, macht sie dies alles mit ihrem lebhaften Humor wieder wett, mit ihrem heiteren Naturell, wie man es bei jemandem mit einem so strengen Äußeren nicht erwarten würde. Wenn sie mit allen Freundschaft schließt, dann weil sie den Menschen zugewandt ist und sich für sie interessiert.
    »Auch wenn sie ihre Tage im Freien, auf einem Bahnsteig verbringt, ist die Frau mit dem Blumenstrauß alles andere als eine Herumtreiberin. Sie lebt in einem ansehnlichen Bürgerhaus, das in einer Straße mit Bäumen steht. Sie wohnt allein und hat eine türkische Haushälterin in den Fünfzigern. Ihr Name ist Steinmetz.«
    »Steinmetz? Meinst du, die Türkin sagt uns, auf wen sie im Bahnhof wartet?«
    »Die Türkin ergreift die Flucht, sobald sie jemanden kommen sieht. Das hat mir ein Freund erzählt, der in der Nachbarschaft wohnt. Sie spricht weder Deutsch noch Französisch oder Italienisch.«
    »Und wie verständigt sie sich mit ihrer Arbeitgeberin?«
    »Auf Russisch.«
    »Die Türkin versteht Russisch?«
    »Ja, wie Frau Steinmetz.«
    »Klingt interessant, Ulla. Hast du etwas über den Familienstand von dieser Frau Steinmetz in Erfahrung bringen können?«
    »Ich habe es versucht. Bin aber nicht weit gekommen.«
    »Ein Mann? Kinder? Verwandte?«
    »Nichts. Genauer gesagt: Ich kann nicht beschwören, dass sie keinen Mann und keine Kinder hat oder hatte, ich sage nur, dass ich es nicht weiß.«
    Als wir nachmittags bei Tee und Makronen mit den Verlagsangestellten und dem Verleger Egon Ammann zusammensaßen, brachte ich die Angelegenheit noch einmal zur Sprache.
    »Was glaubt ihr, auf wen die Frau mit dem Blumenstrauß wartet?«
    »Auf ihren Sohn«, antwortete Claudia. »Eine Mutter hofft immer, dass ihr Sohn kommt.«
    »Warum ihr Sohn?«, entrüstete sich Nelly, »warum nicht ihre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher