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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Die Träumerin von Ostende
    I ch glaube, ich habe nie jemanden gekannt, der so anders war, als er zunächst wirkte, wie Emma van A. Bei unserer ersten Begegnung vermittelte sie den Eindruck einer fragilen, unauffälligen Frau, so farblos, spröde und durchschnittlich, dass man sie auf der Stelle hätte vergessen können. Doch eines Tages kam ich mit ihrer Wirklichkeit in Berührung, und rätselhaft, herrisch, brillant, widersprüchlich und beharrlich wie sie war, ließ sie mich nicht mehr los, nahm mich für immer im Gespinst ihres verführerischen Charmes gefangen.
    Manche Frauen sind wie eine Falle, in die man gerät. Manchmal möchte man sich nicht einmal mehr daraus befreien. Emma van A. hält mich in einer solchen Falle gefangen.
     
    Alles begann im März, einem kühlen, zögerlichen Monat März, in Ostende.
    Ich hatte immer von Ostende geträumt.
    Wenn ich reise, üben Namen eine stärkere Anziehungskraft auf mich aus als Orte. Höher als Kirchtürme, erklingen sie schon von fern, sind über Tausende von Kilometern zu hören, lösen mit ihrem Klang Bilder aus.
    Ostende …
    Konsonanten und Vokale zeichnen einen Plan, ziehen Mauern hoch, schaffen eine bestimmte Atmosphäre.
    Trägt der kleine Marktflecken den Namen eines Heiligen, siedelt ihn meine Phantasie um eine Kirche herum an, erinnert sein Name an einen Wald – wie Boisfort – oder an Felder – wie Champigny –, überzieht Grün die Gassen; verweist er auf ein Material – wie Pierrefonds –, kratze ich im Geist am Putz, um die Steine hervorzuheben; gemahnt er an ein Wunder – wie Dieulefit –, stelle ich mir einen Ort auf einem steilen, die Landschaft überragenden Fels vor. Nähere ich mich einer Stadt, habe ich zunächst ein Rendezvous mit einem Namen.
    Ich hatte schon immer von Ostende geträumt.
    Und das Träumen hätte mir vollauf genügt, wenn nicht das jähe Ende einer Beziehung mich hätte das Weite suchen lassen. Nichts wie weg! Fort aus diesem Paris voller Erinnerungen an eine verlorene Liebe. Rasch, ein Tapetenwechsel, andere Luft …
    Der Norden schien mir geeignet, dort waren wir nie zusammen gewesen. Und kaum entfaltete ich die Landkarte, zogen mich über dem Blau der Nordsee auch schon sieben Buchstaben unwiderstehlich an: Ostende. Nicht nur der Klang faszinierte mich, ich erinnerte mich zudem, dass eine Freundin eine gute Unterkunft vor Ort kannte. Ein paar Anrufe, und die Sache war geregelt, ein Quartier reserviert, das Gepäck im Wagen verstaut, und ich machte mich auf den Weg nach Ostende, als erwartete mich dort mein Schicksal.
    Da der Name mit einem O des Erstaunens begann, besänftigt durch das folgende S, assoziierte ich sogleich begeistert einen glatten, endlosen Sandstrand … Und da die Etymologie des Namens eine »nach Westen hin ausgerichtete« Stadt nahelegte, schloss ich, dass ihre dem Meer zugewandten Häuser allabendlich von der untergehenden Sonne in rotes Licht getaucht wurden.
    Als ich eintraf, war es bereits dunkel, und ich wusste nicht recht, was ich von der Sache halten sollte. Zwar stimmte die Wirklichkeit Ostendes in einigen Punkten mit meinem Traum von Ostende überein, widersprach ihr aber zugleich aufs heftigste: Obwohl sich dieser Ort am Ende der Welt, nämlich in Flandern, befand, zwischen einem Wellen- und einem Feldermeer, obwohl er einen weiten Strand zu bieten hatte und einen nostalgisch anmutenden Deich, machte er doch deutlich, wie stark die Belgier ihre Küste, unter dem Vorwand, sie der Allgemeinheit zugänglich machen zu wollen, verschandelt hatten. Gebäudekomplexe höher als Ozeandampfer, geschmacklose, nach Gesichtspunkten der Rentabilität konzipierte nullachtfünfzehn Unterkünfte, kurz, ein urbanes Chaos, das jene unternehmerische Gier verriet, die darauf abzielte, der Mittelklasse während der Urlaubszeit das Geld aus der Tasche zu ziehen.
    Glücklicherweise stammte das Haus, in dem ich eine Etage gemietet hatte, noch aus dem 19. Jahrhundert, es war eine Villa aus der Zeit Leopolds II ., des »Baukönigs«. Damals nichts Besonderes, war sie heute etwas Außergewöhnliches. Inmitten neu hochgezogener Bauten, beredten Beispielen geometrischer Einfallslosigkeit – simple, in gleichförmige Würfel unterteilte Stockwerke, die wiederum in Appartements unterteilt waren, Appartements, versehen mit scheußlichen Rauchglasfenstern, allesamt symmetrisch und von einer Nüchternheit, dass einem schlecht werden konnte –, wirkte dieses Haus wie ein Solitär und zeugte von
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