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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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stammelte verwirrt:
    »Ostende ist perfekt bei Liebeskummer …«
    »Nicht wahr? Glauben Sie, dass ich mich hier davon erhole?«
    Sie sah mich mit gerunzelten Brauen an.
    »Davon erholen? Sie hoffen, sich davon zu erholen?«
    »Ja, dass ich diese Trennung verschmerze.«
    »Und Sie glauben, Sie schaffen es?«
    »Ja, das glaube ich.«
    »Seltsam«, murmelte sie und musterte mich so eingehend, als nähme sie mich zum ersten Mal wahr.
    Ihre Nichte, die mit ihrem Gewicht die letzten Treppenstufen in Schwingung versetzte, platzte atemlos herein, verschränkte ihre kurzen Arme über der unförmigen Brust und schmetterte mir triumphierend entgegen:
    »Fertig, du kannst einziehen! Du hast oben alle Zimmer für dich. Such dir eins aus. Kommen Sie bitte mit.«
    »Gerda wird Ihnen alles zeigen, cher Monsieur. Seit ich gesundheitliche Probleme habe, bewohne ich nur noch das Erdgeschoss. Daher kann ich Ihnen auch die erste Etage überlassen, fühlen Sie sich dort ganz wie zu Hause. Sie können sich alle Bücher nehmen, die Sie vorfinden, vorausgesetzt, Sie stellen sie wieder zurück an ihren Platz.«
    »Danke.«
    »Gerda wird Ihnen am Morgen Ihr Frühstück bringen, sofern Sie nicht zu früh aufstehen.«
    »Halb zehn wäre mir recht.«
    »Wunderbar. Dann wünsche ich Ihnen also einen guten Abend, Monsieur, und einen angenehmen Aufenthalt.«
    Woher kam die plötzliche Eingebung? War sie nicht die Art Frau, die einen Handkuss erwartete? Gut gedacht: Kaum ging ich auf sie zu, hielt sie mir auch schon ihren Handrücken entgegen, und ich beugte mich, comme il faut, darüber.
    Die Nichte beobachtete uns wie zwei Clowns, zuckte die Schultern, griff nach den Koffern und begann, die lackierte Holztreppe zu erklimmen, die unter ihren Schritten bebte.
    Ich war im Begriff, den Salon zu verlassen, als mich die Stimme Emma van A.s zurückhielt:
    »Monsieur, Ihre Worte gehen mir nicht aus dem Kopf, Sie sagten eben, Sie glaubten, über diese Trennung hinwegzukommen. Verstehen Sie meine Reaktion nicht falsch: Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Ich wünsche es Ihnen. Ja, es würde mich sogar sehr freuen.«
    »Danke, Madame van A., auch ich wäre sehr froh.«
    »Es ist nämlich so, wenn Sie über eine Trennung hinwegkommen, dann war die ganze Sache es auch nicht wert.«
    Ich war perplex.
    Sie musterte mich eingehend und erklärte dann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:
    »Eine Liebe, über die man hinwegkommt, war nicht
die
Liebe.«
    Daraufhin setzte sie mit ihren Händen die Räder ihres Rollstuhls in Bewegung und stand innerhalb von drei Sekunden wieder so am Fenster, wie ich sie anfangs angetroffen hatte.
    Die obere Etage war mit sicherem Geschmack eingerichtet, üppig möbliert, mit einer weiblichen Note und von altmodischem Charme.
    Nachdem ich mir alles angesehen hatte, wählte ich das »Blaumeisenzimmer« aus, das wegen der Wandbespannung so hieß, ein Stoff im japanischen Stil, dessen verblichene Farben von einem subtilen Raffinement zeugten. Allerdings tat ich mich etwas schwer, zwischen all dem Nippes Platz für meine eigenen Sachen zu finden, aber dieser ganze Zierrat machte, wie eine barocke Muschelskulptur, nur in verschwenderischer Fülle Sinn.
    Gerda empfahl mir einige Restaurants, vertraute mir einen Schlüsselbund an und verabschiedete sich, um mit dem Rad die zehn Kilometer zurückzulegen, die sie von ihrem Heim trennten.
    Ich entschied mich für den der Villa Circé am nächsten gelegenen Gasthof und hob mir den Gang durch die Stadt für den folgenden Tag auf. Berauscht von der Meeresluft schlief ich, kaum hatte ich mich auf meinem Bett ausgestreckt, unter den schweren Daunendecken ein.
     
    Am Morgen, nach einem üppigen, von Gerda servierten Frühstück – Champignons, Eier, Kartoffelkroketten –, traf ich, wie erwartet, Emma van A. auf ihrem Platz vor dem Fenster an.
    Da meine Vermieterin mich nicht hatte kommen hören und das Tageslicht grell ins Zimmer fiel, konnte ich ihre Züge und ihr Verhalten eingehender betrachten.
    Auch wenn sie nichts tat, schien sie dennoch etwas zu beschäftigen. Ihre Augen verrieten die unterschiedlichsten Gefühle, Gedanken furchten und entspannten ihre Stirn, ihre Lippen hielten eine Wörterflut zurück, die es nach außen drängte. Ausgestattet mit einem überreichen Innenleben, verbrachte Emma van A. ihre Tage zwischen den aufgeschlagenen Seiten eines Romans auf ihren Knien und einer Fülle von Träumen, die sie überkamen, sobald sie den Kopf hob und hinaus auf die Bucht sah. Es
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