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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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war, als zögen dort zwei einzelne Schiffe vorüber, das Schiff ihrer Gedanken und das Schiff ihres Buches: Von Zeit zu Zeit, wenn sie den Blick senkte, vermischten sich beider Kielwasser für einen Augenblick und verbanden ihre Wellen miteinander, ehe Emma van A.s Schiff alleine weiterfuhr. Sie las, um nicht abzudriften, und nicht, um eine geistige Leere zu füllen, sondern um eine übermächtige schöpferische Kraft zu begleiten. Literatur als Aderlass gegen ein Fieber …
    Emma van A. musste sehr schön gewesen sein, selbst noch im Alter. Doch vor kurzem hatte eine Krankheit – eine Gehirnblutung, wie Gerda sagte – sie von einer Antiquität zum Trödel herabgestuft. Seither schwanden ihre Muskeln, und ihr schlanker Leib war mager geworden. Sie wirkte so leicht, als seien ihre Knochen porös, ja, zerbrechlich. Ihre von Arthrose in Mitleidenschaft gezogenen Gelenke erschwerten ihr jede Bewegung, doch loderte ein solches Feuer in ihr, dass sie dem keinerlei Beachtung schenkte. Ihre Augen waren nach wie vor bemerkenswert: groß, hell und blau, ein Blau, durch das die Wolken des Nordens zogen.
    Mein Gruß riss sie aus ihren Grübeleien, sie sah mich verstört an. Als hätte sie etwas bis ins Innerste aufgewühlt. Dann aber lächelte sie, ein offenes Lächeln, das nichts Künstliches hatte, ein Lichtstreif über der rauen See.
    »Ah, guten Tag. Haben Sie gut geschlafen?«
    »So gut, dass ich es gar nicht weiß. Und jetzt sehe ich mir Ostende an.«
    »Wie ich Sie beneide … Einen schönen Tag, Monsieur.«
    Ich schlenderte mehrere Stunden durch Ostende, wobei ich nie länger als zwanzig Minuten in den Seitenstraßen verweilte, sondern immer wieder, wie eine von der Seeluft angezogene Möwe, zur Promenade oder auf den Deich zurückkehrte.
    Die Nordsee zeigte sich austernfarben, grünbraun die Wellen, perlmuttweiß die Schaumkronen, und spielte mit zarten erlesenen Farbnuancen, die mich ausruhen ließen von meinen leuchtend hellen Erinnerungen ans Mittelmeer: ungetrübtes Blau, gelber Sand, beides von so lebhafter und einfacher Farbgebung wie eine Kinderzeichnung. Mit seinen gedämpften Tönen, die an jenen jodhaltigen Genuss erinnerten, wie man ihn beim Verzehr von Meeresfrüchten in einer Brasserie verspürt, wirkte dieses Meer zudem auch salziger.
    Obgleich ich nie zuvor in Ostende gewesen war, rief es Erinnerungen in mir wach, und ich gab mich Kindheitsgefühlen hin. Mit bis zu den Knien aufgekrempelter Hose setzte ich meine Füße dem prickelnden Sand aus, ehe ich sie zur Belohnung ins Wasser tauchte. Wie früher ging ich bis zu den Waden in die Wellen, wagte mich dann aber nicht weiter. Und wie früher kam ich mir winzig vor angesichts der unendlichen Weite von Himmel und Meer.
    Um mich herum kaum eine Menschenseele. Bis auf ein paar alte Leute. Lieben sie die Küste deshalb so? Weil sie beim Baden alterslos sind? Weil sie die Genügsamkeit wiederentdecken, die einfachen Freuden der Kindheit? Weil, während Häuser und Handel dem Wandel unterworfen sind, Sand und Wellen unberührt davon bleiben, ewig und rein? Der Strand ist ein geheimer Garten, dem die Zeit nichts anhaben kann.
    Ich kaufte mir Krabben, die ich in ein Pappschälchen mit Mayonnaise tunkte und im Stehen aß, anschließend setzte ich meinen Spaziergang fort.
    Wieder zurück in der Villa Circé, gegen achtzehn Uhr, war ich wie berauscht von Sonne und Wind und hatte den Kopf voller Träume.
    Emma van A. wandte sich nach mir um, lächelte, als sie mich im Zustand seliger Trunkenheit sah, und fragte mich mit einem Augenzwinkern:
    »Na, wie war’s, haben Sie Ostende erkundet?«
    »Ja, es war herrlich.«
    »Wie weit sind Sie gegangen?«
    »Bis zum Hafen. Denn, um ehrlich zu sein, hätte ich nicht die Möglichkeit, die Segel zu streichen, könnte ich hier nicht bleiben.«
    »Ach tatsächlich? Sie bleiben also nur unter der Voraussetzung, dass sie jederzeit wieder fortkönnen? Das ist typisch Mann.«
    »Sie haben es erkannt. Die Männer fahren zur See, und die Frauen …«
    »… werden Seemannsfrauen! Und dann Seemannswitwen.«
    »Worauf wartet man denn so, wenn man ein Leben lang in einer Hafenstadt am Ende der Welt wohnt?«
    Sie hatte das Provokante meiner Frage durchaus verstanden, sah mich freundlich an und ermunterte mich stumm fortzufahren. Was ich denn auch tat:
    »Wartet man auf eine Abreise?«
    Sie zuckte verneinend die Schultern.
    »Oder eher auf eine Rückkehr?«
    Ihre großen graublauen Augen musterten mich eindringlich. Ich glaubte, darin
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