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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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architektonischem Gestaltungswillen; es hatte sich mit Bedacht herausgeputzt, Größe und Form seiner Öffnungen variiert, wagte sich hier in einem Balkon vor, da in einer Terrasse, dort in einem Wintergarten, spielte mit hohen, mittelhohen und niedrigen Fenstern und machte sich, wie eine Frau, die sich ein Schönheitspflästerchen auf die Stirn klebt, einen Spaß daraus, sich unter seinem Schieferdach mit einem Ochsenauge zu schmücken.
    Eine Rothaarige um die fünfzig mit einem breiten, blaurot geäderten Gesicht verstellte die geöffnete Tür.
    »Was willst du?«
    »Wohnt hier Madame Emma van A.?«
    »Geeenau«, brummte sie mit einem kräftigen flämischen Akzent, der ihre Vierschrötigkeit noch unterstrich.
    »Ich habe bei Ihnen den ersten Stock für vierzehn Tage gemietet. Meine Freundin aus Brüssel müsste Sie benachrichtigt haben.«
    »Aber ja, natürlich! Du wirst schon erwartet! Ich sag meiner Tante gleich Bescheid. Aber kommen Sie doch bitte rein, na komm schon.«
    Mit ihren rauen Händen entriss sie mir die Koffer, knallte sie in der Eingangshalle auf den Boden und schob mich mit barscher Liebenswürdigkeit Richtung Salon.
    Vor dem Fenster zeichnete sich die Silhouette einer zierlichen Frau in einem Rollstuhl ab, dem Meer zugewandt, dessen dunkle Tinte der Himmel trank.
    »Tante Emma, dein Mieter.«
    Emma van A. wandte sich um und sah mich an.
    Andere hätten ihre Gäste mit einem einnehmenden Lächeln willkommen geheißen, sie aber musterte mich nur streng. Emma van A. war von durchscheinender Blässe, ihre Haut eher gealtert als faltig, ihr schwarz-weißmeliertes Haar wirkte weniger grau als vielmehr stark gesträhnt, ihr Gesicht war lang und schmal, ihr Hals zart. War es das Alter? War es eine Angewohnheit? Sie hielt ihren Kopf so zur Seite geneigt, dass er mit einem Ohr fast die linke Schulter berührte und ihr Kinn stark nach rechts oben zeigte. Schief und aufmerksam, wie sie dasaß, schien sie gleichermaßen zu lauschen wie zu beobachten.
    Ich musste das Schweigen irgendwie brechen.
    »Guten Tag, Madame, ich freue mich sehr, dass ich bei Ihnen unterkommen kann.«
    »Sie sind Schriftsteller?«
    Jetzt verstand ich, warum sie mich so prüfend angesehen hatte: Sie fragte sich, ob ich aussah wie einer, der Romane schrieb.
    »Ja.«
    Sie seufzte wie erleichtert. Offensichtlich hatte die Tatsache, dass ich Autor bin, sie dazu veranlasst, mir ihr Haus zu öffnen.
    Ihre Nichte, die hinter mir stand, begriff, dass der Eindringling seine Aufnahmeprüfung bestanden hatte, und posaunte lautstark:
    »Na, dann werd ich mal gehen und die Zimmer weiter herrichten, in fünf Minuten bin ich so weit.«
    Während sie sich entfernte, sah ihr Emma van A. wie einem treuen, aber dummen Hund hinterher.«
    »Bitte verzeihen Sie, Monsieur, meine Nichte weiß nicht, wie man sich siezt. Im Niederländischen gebraucht man nur das Du.«
    »Schade, dass man sich um das Vergnügen bringt, vom Du zum Sie übergehen zu können.«
    »Am schönsten wäre es doch, eine Sprache zu sprechen, die nur das Sie kennt, oder?«
    Warum hatte sie das gesagt? Befürchtete sie etwa, ich könnte allzu vertraulich werden? Ich blieb etwas verlegen stehen. Sie bat mich, Platz zu nehmen.
    »Seltsam. Ich verbringe mein Leben inmitten von Büchern, bin aber nie einem Schriftsteller begegnet.«
    Ich sah mich kurz um und fand ihre Worte bestätigt: Tausende Bücher füllten die Regale des Salons, ja, reichten selbst bis ins Speisezimmer hinein. Damit ich mir ein besseres Bild davon machen konnte, glitt sie leise wie ein Schatten mit ihrem Rollstuhl zwischen den Möbeln hindurch und knipste matt leuchtende Lampen an.
    Obgleich ich nichts mehr genieße als die Gegenwart bedruckten Papiers, überkam mich in dieser Bibliothek, ohne dass ich recht wusste weshalb, eine gewisse Befangenheit. Die Bände sahen vornehm aus, waren sorgsam in Leder oder Leinen gebunden, Verfasser und Titel in goldenen Lettern eingeprägt; unterschiedlich groß standen sie dicht beieinander, weder wahllos noch übertrieben symmetrisch angeordnet, einem Gleichmaß folgend, das von einem ausgewogenen Geschmack zeugte, und dennoch … Sind wir so sehr an kartonierte Ausgaben gewöhnt, dass in Leder gebundene Bücher uns verunsichern? Machte es mir etwas aus, dass ich darunter keinen meiner bevorzugten Einbände sah? Es fiel mir schwer, meine Irritation in Worte zu fassen.
    »Sie müssen verzeihen, aber ich habe keinen Ihrer Romane gelesen«, sagte sie, meine Befangenheit falsch
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