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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Geheimnis, ich möchte Ihnen keinesfalls zu nahe treten.«
    Sie nahm einen Schluck und sah mich, um sich meiner Aufrichtigkeit zu vergewissern, forschend an; ich hielt ihrer Prüfung stand. Überzeugt neigte sie schließlich den Kopf, und als sie »danke« murmelte, klang ihre Stimme anders.
    Es war jetzt an der Zeit, ihr eines meiner Bücher zu schenken, das ich am Vortag in der Stadt gekauft hatte. Ich zog es aus meiner Gesäßtasche.
    »Hier bitte, ich habe Ihnen einen Roman mitgebracht, den ich für meinen besten halte. Ich wäre überglücklich, wenn Sie ihn gelegentlich lesen würden und er Ihnen auch noch gefiele.«
    Sie unterbrach mich verblüfft.
    »Ich? Aber … das ist unmöglich …«
    Sie griff sich ans Herz.
    »Sie müssen verstehen, ich lese nur Klassiker. Ich lese keine … keine … keine …«
    »Neuere Literatur?«
    »Ja, keine Neuerscheinungen. Ich warte.«
    »Worauf?«
    »Dass sich der Ruf des Autors bestätigt, dass sein Werk für wert befunden wird, einer zeitlosen Bibliothek anzugehören, dass …«
    »Dass er stirbt, ist es das?«
    Es war mir ungewollt herausgerutscht. Dass Emma van A. mein Geschenk ablehnte, empörte mich.
    »Nur zu, sagen Sie es schon: Die besten Autoren sind bereits tot! Seien Sie versichert, auch ich werde irgendwann sterben. Irgendwann wird auch mir die Ehre des Hinscheidens zuteil, und am nächsten Tag lesen Sie mich dann vielleicht!«
    Weshalb regte ich mich eigentlich so auf? Was machte es schon aus, ob diese alte Jungfer mich bewunderte oder nicht? Weshalb buhlte ich um ihr Interesse?
    Sie setzte sich in ihrem Stuhl zurecht, versuchte, sich so gerade wie möglich aufzurichten, und musterte mich, obwohl sie kleiner war als ich, von oben herab:
    »Monsieur, mit Rücksicht auf mein Alter und auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, seien Sie nicht anmaßend: Ich werde diese Erde aller Wahrscheinlichkeit nach vor Ihnen verlassen, und zwar bald. Und mein Tod wird mich nicht talentierter machen, als ich bin. Was übrigens auch für Sie zutrifft.«
    Sie drehte ihren Rollstuhl energisch um und schlängelte sich zwischen den Möbeln der Bibliothek hindurch.
    »Es ist traurig, aber so ist es nun einmal: Wir kommen nicht zusammen.«
    Sie stoppte die Räder des Rollstuhls vor dem riesigen Fenster, das aufs Meer hinausging.
    »Manchmal leben Menschen, die geschaffen sind, sich zu entflammen, nicht die große, ihnen bestimmte Leidenschaft, weil der eine zu jung und der andere zu alt ist.«
    Und mit gebrochener Stimme fügte sie hinzu:
    »Schade, ich hätte Sie gern gelesen …«
    Sie war aufrichtig bekümmert. Wirklich, diese Frau brachte mich ganz aus dem Konzept. Ich ging zu ihr.
    »Madame van A., wie konnte ich mich nur so ereifern, was für eine idiotische Idee, dieses Geschenk, und dann wollte ich es Ihnen auch noch aufdrängen. Entschuldigen Sie.«
    Sie wandte sich mir zu, und ich bemerkte Tränen in ihren sonst so trockenen Augen.
    »Am liebsten würde ich Ihr Buch verschlingen, aber ich kann nicht.«
    »Warum?«
    »Stellen Sie sich vor, es gefiele mir nicht …«
    Allein der Gedanke ließ sie vor Entsetzen erschaudern. Ihre Heftigkeit rührte mich. Ich lächelte ihr zu. Sie bemerkte es und erwiderte mein Lächeln.
    »Es wäre entsetzlich, Sie sind so sympathisch.«
    »Wäre ich Ihnen nicht mehr sympathisch, wenn ich ein schlechter Schriftsteller wäre?«
    »Nein, Sie würden lächerlich. Ich räume der Literatur einen so hohen Stellenwert ein, dass ich es nicht ertragen könnte, wenn Sie mittelmäßig wären.«
    Sie war zutiefst aufrichtig, zitterte geradezu vor Aufrichtigkeit.
    Mir war zum Lachen. Warum machten wir es uns wegen ein paar Seiten so schwer? Es war irgendwie rührend.
    »Ärgern wir uns nicht mehr, Madame van A. Ich nehme meinen Roman zurück, und wir sprechen über etwas anderes.«
    »Selbst das ist nicht möglich.«
    »Was ist nicht möglich?«
    »Sprechen. Ich kann nicht sprechen, wie ich möchte.«
    »Wer hindert Sie daran?«
    Sie zögerte, sah sich hilfesuchend um, ließ ihren Blick über die Bücherregale gleiten, als suchte sie dort Halt, war nahe daran zu antworten, hielt inne und stieß schließlich erschöpft hervor:
    »Ich.«
    Sie seufzte und sagte noch einmal bekümmert:
    »Ja, ich …«
    Plötzlich sah sie mir fest in die Augen, und dann brach es aus ihr hervor:
    »Wissen Sie, ich war einmal jung, ich war verführerisch.«
    Warum sagte sie mir das? Was hatte das mit unserem Gespräch zu tun? Ich war perplex.
    Und wieder sagte sie
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