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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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weckten ihre Neugier nicht und Erklärungen nur, sofern sie abwertend waren. Gerda gehörte zu den Menschen, die Verständnis mit Herabsetzung verwechselten, alles Romantische oder Erhabene war für sie nichts als Schall und Rauch.
    Am liebsten wäre ich den ganzen Tag umhergestreift, aber das Wetter machte mir einen Strich durch die Rechnung. Nicht nur ein feindseliger Wind störte mich bei meinen Gedanken, nein, die düsteren, tiefhängenden Wolken regneten auch noch dicke, kalte Tropfen ab.
    Nach zwei Stunden flüchtete ich mich zurück in die Villa. Als ich durch die Tür trat, überfiel mich eine völlig aufgelöste Gerda:
    »Meine Tante ist im Krankenhaus, sie hatte einen Herzanfall!«
    Ich fühlte mich schuldig. Sie war so außer sich gewesen, als ich sie verlassen hatte, dass ihr die Erregung aufs Herz geschlagen sein musste.
    »Was sagen die Ärzte?«
    »Ich hab auf dich gewartet, damit ich ins Krankenhaus kann. Dann mach ich mich jetzt mal auf den Weg.«
    »Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«
    »He, sie ist krank, nicht ich. Und hast du etwa ein Fahrrad? Das Krankenhaus ist nicht gleich nebenan. Warte hier. Ist besser so. Ich bin bald zurück.«
    Ich nutzte ihre Abwesenheit und sah mir den Salon näher an. Um mich von meiner Unruhe abzulenken, studierte ich den Inhalt der Regale. Wenn dort Klassiker der Weltliteratur standen, dann sicher auch Gesamtausgaben von Autoren, die ihre Glanzzeit gekannt hatten und nach denen heute kein Hahn mehr krähte. Daher begann ich über die Vergänglichkeit des Erfolgs nachzusinnen, die Unbeständigkeit jeden Ruhms. Keine schönen Aussichten. Wenn ich heute Leser hatte, hätte ich sie dann auch noch morgen? In ihrer Verblendung glauben die Schriftsteller allen Ernstes, sie könnten der Sterblichkeit entkommen, wenn sie etwas hinterließen; aber ist dieses Etwas von Dauer? Wenn ich einen Leser des 21. Jahrhunderts zu erreichen vermag, erreiche ich dann auch einen Leser des 23. Jahrhunderts? Ist diese Frage an sich nicht schon überheblich? Sollte ich sie mir verbieten? Sollte ich mich nicht freimachen von diesem Anspruch? Einfach in der Gegenwart leben, nur in der Gegenwart, mich erfreuen an dem, was ist, und nicht auf das hoffen, was sein wird?
    Mir war nicht bewusst, dass diese Überlegungen meine Besorgnis hinsichtlich Emmas Gesundheit noch verstärkten, ich versank in eine Art Dämmerzustand, der mich die Zeit vergessen ließ.
    Ich schreckte auf, als Gerda die Eingangstür hinter sich zuschlug und laut rief:
    »Alles halb so schlimm. Sie ist aufgewacht. Die erholt sich wieder. Ist noch mal gutgegangen!«
    »Gott sei Dank! Blinder Alarm also?«
    »Ja, die Ärzte behalten sie noch eine Weile zur Beobachtung da, dann krieg ich sie wieder zurück.«
    Ich betrachtete Gerdas stämmige Gestalt, ihre Schultern waren so breit wie ihr Becken, ihr Gesicht sommersprossig, ihre Arme kurz.
    »Sie hängen sehr an Ihrer Tante?«
    Sie zuckte die Schultern und entgegnete, als sei dies offensichtlich:
    »Die Arme, sie hat ja nur mich!«
    Daraufhin drehte sie sich um, ging und machte sich lautstark an ihren Kochtöpfen zu schaffen.
     
    Die folgenden Tage waren ziemlich unangenehm. Gerda ließ nur spärlich durchsickern, wie es um ihre Tante stand, die nicht zurückkam. Und dann wurde zu allem Überfluss, als fehlte Ostende der Schutz durch Emma van A.s schwachen Körper, die Stadt auch noch von Touristen erstürmt.
    Die Osterfeiertage eröffnen – was ich nicht wusste – in den Urlaubsorten des Nordens für gewöhnlich die Saison, und ab Karfreitag wimmelten Straßen, Läden und Strände von Besuchern, die ein buntes Kauderwelsch sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch, Türkisch, Französisch und Niederländisch, das weiterhin vorherrschte. Paare und Familien trafen in Horden ein, ich hatte noch nie so viele Kinderwagen auf einmal gesehen, es war, als hätte man es mit einem Zuchtbetrieb zu tun; obgleich das Thermometer nicht mehr als siebzehn Grad anzeigte und ein unvermindert frischer Wind wehte, bedeckten Tausende Leiber die Strände. Die Männer, mutiger als die Frauen, boten ihre Oberkörper der bleichen Sonne dar; wenn sie ihre Kleider ablegten, dann eher um sich durch ihre Kühnheit hervorzutun als durch ihre Schönheit; das männliche Geschlecht nahm an einem Wettbewerb teil, der das weibliche außer Acht ließ; die langen oder halblangen Hosen behielt man vorsichtshalber an, denn der männliche Mut beschränkte sich auf die Brust. Ich, der ich
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