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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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meine Sommer am Mittelmeer verbracht hatte, war erstaunt, nur zwei Hautfarben zu sehen, Weiß und Rot, Braun schien so gut wie nicht vorzukommen. Unter diesen nordischen Menschen war niemand braun: Entweder waren sie blass, oder sie hatten einen Sonnenbrand. Zwischen Blässe und Scharlachrot trugen einzig die jungen Türken – nicht ganz unbefangen – einen karamellfarbenen Teint zur Schau. Aus diesem Grund blieben sie auch zusammen.
    Ich konnte mich kaum bewegen zwischen all diesen Leuten und den Hunden, die nicht an den Strand durften und an ihren Leinen zerrten, um sich zum Sand vorzukämpfen, zwischen den Mieträdern, die nicht vorwärtskamen, und den Tretautos, die erst recht nicht weiterkamen – ein Chaos, das mich wie eine Invasion anmutete. Mit welchem Recht aber sprach ich von Invasion? Wie kam ich dazu, die anderen als Barbaren zu bezeichnen? Schließlich hatte ich ihnen nur ein paar Tage voraus. Reichte es etwa, bei Emma van A. zu wohnen, um sich als Einheimischer zu betrachten? Wie auch immer, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte man mir mit meiner Vermieterin zugleich mein Ostende genommen.
    Daher war ich auch überglücklich, als ich den Krankenwagen hörte, der sie zurück in die Villa Circé brachte.
    Die Sanitäter setzten sie in ihrem Rollstuhl in der Eingangshalle ab, und während Gerda mit ihrer Tante sprach, hatte ich den Eindruck, dass sich die alte Dame entsetzlich langweilte, zumal sie mir von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarf, der mich zum Bleiben ermutigte.
    Als Gerda in der Küche verschwand, um Tee zu kochen, wandte sich Emma van A. mir zu. Etwas an ihr war anders. Sie wirkte entschlossen. Ich ging zu ihr.
    »Wie war es in der Klinik?«
    »Keine besonderen Vorkommnisse. Doch ja, am unangenehmsten war für mich Gerdas Stricknadelgeklapper an meinem Bett. Geistlos, oder? Gerda sollte lieber ein Buch nehmen, wenn sie nichts zu tun hat, stattdessen fuchtelt sie mit einer Häkelnadel herum oder malträtiert Wolle. Wie ich sie verabscheue, diese fleißigen Lieschen. Sie sind auch den Männern ein Gräuel. Denken Sie nur an Nordirland, an die Bäuerinnen von den Aran Inseln! Ihre Männer kommen so gut wie nie zurück, und wenn, dann nur zusammen mit dem Strandgut, vom Wasser ausgespuckt, vom Salz zerfressen, erkennbar nur noch am Muster ihrer Pullover! Tja, so ergeht es den Stricklieseln: Sie ziehen nichts als Leichen an. Ich muss mit Ihnen reden.«
    »Natürlich, Madame. Hätten Sie lieber, dass ich anderswo wohne, bis Sie wieder ganz hergestellt sind?«
    »Nein. Im Gegenteil. Ich lege Wert darauf, dass Sie bleiben, denn ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
    »Nur zu gern.«
    »Darf ich Sie einladen, mit mir zu essen? Gerdas Küche ist zwar nicht besser als ihr Kaffee, aber ich werde sie bitten, eines der beiden Gerichte zu machen, auf die sie sich versteht.«
    »Mit Vergnügen. Ich bin froh, Sie wieder gesund zu sehen.«
    »Ach, ich bin nicht gesund. Dieses verflixte Herz wird mich über kurz oder lang im Stich lassen. Daher möchte ich auch mit Ihnen reden.«
    Voller Ungeduld erwartete ich das Abendessen. Meine Träumerin hatte mir mehr gefehlt, als ich mir eingestehen wollte, und ich spürte, dass sie in der Stimmung war, sich mitzuteilen.
    Um zwanzig Uhr, sobald sich Gerda mit ihrem Rad auf den Nachhauseweg gemacht hatte und wir gerade bei der Vorspeise saßen, beugte sich Emma zu mir.
    »Haben Sie schon einmal Briefe verbrannt?«
    »Ja.«
    »Was haben Sie dabei empfunden?«
    »Ich war zornig, dass ich dazu gezwungen war.«
    Durch meine Antwort ermutigt, entgegnete sie mit funkelnden Augen:
    »Genau. Einmal, es ist dreißig Jahre her, war auch ich gezwungen, die Worte und Fotos, die mit dem Mann zu tun hatten, den ich liebte, in den Kamin zu werfen. Ins Feuer, und ich habe zugesehen, wie die fassbaren Spuren meines Schicksals darin zu Asche wurden; auch wenn ich weinte, während ich dieses Opfer brachte, ging es mir nicht wirklich nahe: Mir blieben ja meine Erinnerungen, und zwar für immer; ich sagte mir, dass niemand meine Erinnerungen je verbrennen könnte, niemals.«
    Sie sah mich traurig an.
    »Ich habe mich geirrt. Am Donnerstag, als ich diesen dritten Herzanfall hatte, entdeckte ich, dass meine Krankheit im Begriff ist, meine Erinnerungen auszulöschen. Und dass der Tod diese Arbeit zu Ende führen wird. Folgendes: Im Krankenhaus habe ich beschlossen, mit Ihnen zu reden. Ihnen alles zu erzählen, nur Ihnen.«
    »Warum mir?«
    »Sie schreiben.«
    »Sie
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