Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
Nacken und Rücken rinnen.
    Der Fremde blieb kurz vor seiner Tür stehen und ging dann weiter.
    Mit dem Ohr am Holz hörte Maurice, wie sich die Schritte entfernten.
    Sylvie! Er ging zu Sylvie!
    Was tun? Fliehen! Rasch die Treppe hinab und auf und davon in die Nacht. Aber wohin? Maurice war die Umgebung fremd, der Eindringling hingegen kannte sie in- und auswendig. Und dann seine Cousine, er konnte sie unmöglich opfern und feige diesem Verbrecher überlassen …
    Als er die Tür erneut einen Spaltbreit aufmachte, sah er den Schatten in Sylvies Zimmer treten.
    »Wenn ich noch lang überlege, geschieht gar nichts mehr.«
    Er musste endlich etwas unternehmen! Maurice wusste genau: Je mehr Zeit verging, desto handlungsunfähiger wurde er.
    »Mach schon, Maurice, es ist wie beim Sprung vom Zehnmeterbrett: Springst du nicht gleich, springst du nie. Gewonnen hat, wer nicht lange nachdenkt.«
    Er holte tief Luft, sprang hinaus in den Flur und stürzte zu Sylvies Zimmer.
    »Vorsicht! Sylvie! Vorsicht!«
    Der Eindringling hatte die Tür verschlossen, und so rannte Maurice sie ein.
    »Raus hier!«
    Das Zimmer war leer.
    Schnell! Unter dem Bett!
    Maurice warf sich flach auf den Boden. Niemand unter dem Bett.
    Der Schrank! Das Schrankzimmer! Schnell!
    Im Handumdrehen hatte er sämtliche Türen aufgerissen.
    Was zum Teufel war hier los?
    »Sylvie! Sylvie, wo bist du?«
    Die Badezimmertür ging auf, und Sylvie kam heraus, zu Tode erschrocken, den Bademantel flüchtig zugebunden, eine Bürste in der Hand.
    »Was ist passiert?«
    »Bist du allein da drin?«
    »Maurice, das ist doch wohl nicht dein Ernst?«
    »Bist du allein da drin?«
    Folgsam ging sie wieder hinein, sah sich um und runzelte zum Zeichen ihrer Befremdung die Brauen.
    »Natürlich bin ich allein in meinem Badezimmer. Mit wem sollte ich denn hier sein?«
    Vernichtet sank Maurice auf die Bettkante. Rasch ging Sylvie zu ihm und nahm ihn in die Arme.
    »Maurice, was ist mit dir? Hast du schlecht geträumt? Sprich mit mir, Maurice, sprich, sag mir, was dich bedrückt.«
    Von jetzt an musste er schweigen, andernfalls erging es ihm wie Eva Simplon im Roman, man würde ihn für verrückt halten und so tun, als hörte man ihm zu, ohne ihn zu hören.
    »Ich … ich …«
    »Ja, sprich, Maurice. Sprich.«
    »Ich … ich muss tatsächlich schlecht geträumt haben.«
    »Na, siehst du, es ist vorbei. Alles ist gut. Nichts ist passiert. Komm, wir gehen jetzt hinunter in die Küche, und ich mache uns einen Tee.«
    Sie zog ihn, pausenlos redend, mit nach unten. Eine vertrauensselige, furchtlose Person, die nichts so leicht aus der Fassung brachte. Sie wirkte zunehmend beruhigend auf Maurice, der sich sagte, dass er gut daran tat, seine Ängste für sich zu behalten. Ihr Verhalten würde ihm die Kraft geben, seine Nachforschungen alleine weiterzuführen. Schließlich war er nur ein einfacher Geschichtslehrer, kein Agent des FBI und nicht wie Eva Simplon an außergewöhnliche Situationen gewöhnt.
    Während Sylvie munter plapperte, fragte er sich, ob nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesem Haus und Darkwell bestand. Vielleicht verbarg sich in diesem Gemäuer ebenfalls ein Raum, zu dem eine Geheimtür führte, eine Kammer, in die sich der Unbekannte geflüchtet hatte?
    Ihn schauderte.
    Dies bedeutete, der Eindringling hielt sich noch immer hier auf … Wäre es nicht besser, diesen Ort auf der Stelle zu verlassen?
    Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Aber ja! Natürlich! Wie war der Mann hereingekommen, wo doch alles verriegelt und verschlossen war?
    Er war nicht hereingekommen: Er war bereits da. In Wirklichkeit wohnte er in diesem Haus, wohnte dort länger als sie. Er lebte in einem Raum, den sie aufgrund der etwas sonderbaren Architektur nicht wahrgenommen hatten.
    Als wir kamen, haben wir ihn gestört.
    Wer ist er? Und wonach sucht er?
    Es sei denn …
    Nein.
    Doch! Warum kein Gespenst? Schließlich reden die Menschen schon so lange von Gespenstern. Wie sagte noch Josépha Katz zwischen zwei Zigarrenzügen? Kein Rauch ohne Feuer. Was, wenn …
    Maurice war bestürzt, er wusste nicht, was erschreckender war, der Koloss, der sich irgendwo im Haus versteckte, ohne dass sie wussten wie und weshalb, oder das Gespenst, das in diesem Gemäuer sein Unwesen trieb …
    »Maurice, du machst mir Sorgen. Du scheinst dich nicht wohl zu fühlen.«
    »Hm? Möglicherweise ein leichter Sonnenstich …«
    »Vielleicht … wenn du dich morgen nicht besser fühlst, hol
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher