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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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ich den Arzt.«
    »Morgen sind wir tot«, dachte Maurice, behielt es aber für sich.
    »Gut, dann gehe ich jetzt also wieder schlafen.«
    »Noch einen Tee?«
    »Nein danke, Sylvie. Geh ruhig schon vor, bitte.«
    Während Sylvie die ersten Stufen erklomm, nahm Maurice unter dem Vorwand, die Lichter in der Küche löschen zu wollen, das lange Tranchiermesser vom Haken an der Wand und verwahrte es im Ärmel seines Schlafanzugs.
    Oben wünschten sie einander dann eine geruhsame Nacht.
    Maurice war im Begriff seine Tür zu schließen, als Sylvie nochmals kam und ihm die Wange hinhielt.
    »Hier, mir ist nach einem Gutenachtkuss. Dann kannst auch du besser schlafen.«
    Sie gab ihm einen feuchten Schmatz auf die Schläfe. Als sie zurücktrat, nahmen ihre Augen einen überraschten Ausdruck an: Sie sah etwas hinter Maurice, ja, entdeckte in seinem Zimmer etwas, das sie in sprachloses Erstaunen versetzte!
    »Was? Was ist?«, rief er voller Angst, überzeugt, der Eindringling stünde hinter ihm.
    Sylvie überlegte kurz, ehe sie in lautes Gelächter ausbrach.
    »Nichts, mir ist nur etwas eingefallen, es tut nichts zur Sache. Sei doch nicht so ängstlich, Maurice, du machst dich noch ganz verrückt. Es ist alles in Ordnung.«
    Sie ließ ihn lachend stehen.
    Maurice sah ihr mit einer Mischung aus Neid und Mitleid hinterher. »Selig sind, die da unwissend sind! Sie ahnt nichts, macht sich nur lustig über mich. Dabei ist vielleicht direkt hinter der Wand, an die sie ihr Kopfkissen lehnt, ein Gespenst oder ein potentieller Mörder, und sie nimmt mich nicht ernst. Komm schon, Maurice, sei großzügig, lass ihr ihre Illusionen, reg dich nicht auf.«
    Er legte sich hin, wollte nachdenken, doch das Nachdenken machte ihn nur noch ängstlicher, zumal ihn das Messer mit seiner kalten Klinge, das neben seinem Schenkel auf dem Laken lag, mehr beunruhigte als beruhigte. Er wandte sich wieder dem
Zimmer der dunklen Geheimnisse
zu, als käme er gerade von einer anstrengenden Reise zurück nach Hause. Vielleicht fand er in dem Buch ja auch eine Erklärung für das, was hier geschah?
    Um ein Uhr nachts, als die Geschichte so atemberaubend spannend wurde wie nie zuvor und ihm nur noch fünfzig Seiten bis zur Lösung des Rätsels fehlten, bemerkte er, dass sich im Flur etwas bewegte.
    Dieses Mal löschte er, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, das Licht und griff nach dem Messer.
    Unmittelbar darauf begann der Knauf an seiner Tür sich langsam Millimeter um Millimeter zu drehen.
    Der Eindringling versuchte, in sein Zimmer zu kommen.
    Extrem vorsichtig und unerträglich langsam öffnete er die Tür. Als er über die Schwelle trat, fiel das graue Licht aus der Dachluke im Flur auf seinen kahlen Schädel.
    Maurice hielt den Atem an und tat, als hätte er die Augen geschlossen, während er in Wirklichkeit blinzelnd jede einzelne Bewegung des Kolosses verfolgte.
    Dieser steuerte geradewegs auf das Bett zu und streckte die Hand nach Maurice aus.
    »Jetzt erwürgt er mich!«
    Maurice sprang, das Messer in der Hand, mit einem Satz aus dem Bett und schlug vor Entsetzen schreiend auf den Unbekannten ein, bis er blutete.
     
    Das Aufsehen war gewaltig. Tatsächlich ereigneten sich Vorfälle dieser Art äußerst selten in diesen sonst so stillen, kleinen Nestern der Ardèche.
    Neben den Wagen der Polizei fanden sich noch die des Bürgermeisters, des örtlichen Abgeordneten und der unmittelbaren Nachbarn ein. Da das Haus weithin sichtbar die karge, felsige Landschaft überragte, hatte sich rasch herumgesprochen, was passiert war, und Dutzende Schaulustige waren herbeigeströmt.
    Der Zugang zum Landhaus musste durch eine symbolische Sperre, ein Plastikband, abgesichert werden sowie durch drei Polizisten, um allzu ungezügelter Neugier Einhalt zu gebieten.
    Während ein LKW mit der Leiche fortfuhr, betrachteten Polizisten und Behördenvertreter argwöhnisch die dicke Frau, die ihre Geschichte zum zehnten Mal, immer wieder schluchzend, weinend und sich schneuzend, wiederholte.
    »Ich bitte Sie, lassen Sie doch wenigstens meine Freundinnen herein. Ah, da sind sie ja.«
    Grace, Audrey und Sofia eilten auf Sylvie zu, um sie zu umarmen und zu trösten, ehe sie auf den umstehenden Sofas Platz nahmen.
    Sylvie erklärte den Polizisten, weshalb sie hier waren.
    »Über sie habe ich dieses Landhaus gemietet. Wir sind uns letzten Winter im Krankenhaus begegnet, bei Professor Millau, wir waren dort in Behandlung. Ach, mein Gott, wenn ich geahnt hätte …«
    Und sie
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