Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
eines Notars hinterlegten Pläne eingesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass im Inneren des Gemäuers ein Raum sein musste. Doch wie ihn ausfindig machen? Wer ging Nacht für Nacht dorthin? Eva wollte weder an Gespenster noch an Geister glauben. Glücklicherweise hatte ihr dieses Miststück von Josépha Katz einen jungen Architekten geschickt, der versuchen sollte, die ursprüngliche Raumaufteilung des Hauses zu rekonstruieren – Josépha Katz, diese teuflische Lesbe, die Eva, obgleich unzählige Male von ihr abgewiesen, noch immer anmachte, erwies sich als äußerst professionell – denn vielleicht fand der Architekt eine Erklärung, die alle Vermutungen in Sachen übernatürlicher Phänomene hinfällig machte. Und dennoch … um acht Uhr morgens stand Maurice, der nicht eine Minute geruht hatte, müde, gereizt und wütend darüber auf, dass er Eva Simplon in Darkwell zurücklassen musste, um sich mit seiner Cousine in der Ardèche wiederzufinden. Zumal heute, am Montag, ein Picknick mit den Freundinnen aus dem Supermarkt anstand … Ein Tag in einer Lesbenkolonie, inmitten von Frauen, alle kräftiger und männlicher als er, nein danke!
    Er versuchte geltend zu machen, dass er sich nicht wohl fühle und deshalb lieber zu Hause bliebe. Doch Sylvie gab nicht auf:
    »Ausgeschlossen. Wenn du krank bist und die Sache wird ernst, muss sich jemand um dich kümmern. Entweder ich bleibe, oder du kommst mit.«
    Nichts zu machen. Sein Buch konnte er vergessen. Und so gab er klein bei.
    Die folgenden Stunden waren eine Tortur. Eine sadistische Sonne brannte auf die Schotterwege nieder, über die sie sich vorwärtsquälten. Als sie ein grünes Stauwehr erreichten, in dem das wild reißende Wasser der Ardèche zur Ruhe kam, konnte sich Maurice nicht überwinden, mehr als den großen Zeh in das eisige Nass zu tauchen. Das Picknick im Grünen erwies sich als Reinfall. Zunächst setzte Maurice sich in einen rot wimmelnden Ameisenhaufen, um sich anschließend von einer Biene stechen zu lassen, die ein und dieselbe Aprikose mit ihm teilen wollte. Damit nicht genug. Um die Glut für die Würstchen am Glimmen zu halten, pustete er sich die Lunge aus dem Leib, bis ihm schwindelig wurde, und hatte für den Rest des Nachmittags seine liebe Not, ein hartgekochtes Ei zu verdauen.
    Nach ihrer Rückkehr wollten die Frauen ein Gesellschaftsspiel spielen. Maurice wähnte sich gerettet und machte bereits Anstalten, sich für eine regenerierende Siesta zurückzuziehen, als er jedoch erfuhr, dass es auf historische und geographische Kenntnisse ankam, konnte er nicht widerstehen und nahm daran teil. Er gewann Runde um Runde und fühlte sich bemüßigt, seine Partnerinnen auf seinem Siegeszug immer herablassender zu behandeln. Als es den Frauen zu bunt wurde, griffen sie kurzerhand zum Aperitif. Nach einem Tag in der Sonne gab der Pastis seinem fragilen Gleichgewicht den Rest, und als Maurice mit Sylvie zurück ins Haus ging, machten ihm nicht nur ein Muskelkater, sondern auch heftige Kopfschmerzen zu schaffen.
    Um neun Uhr, unmittelbar nach dem letzten Bissen, verschloss er Läden und Haustür und ging nach oben ins Bett.
    In die Kopfkissen gelehnt, kämpfte er mit Empfindungen widersprüchlichster Art: der Freude, wieder mit Eva Simplon zusammen zu sein, und der Angst vor einem erneuten Besuch des ungebetenen Gastes. Nach ein paar Seiten war das Dilemma vergessen, und Maurice zitterte im Einklang mit seiner Heldin.
    Um halb elf hörte er Sylvie den Fernseher ausschalten und schweren Schritts die Treppe hochkommen.
    Um elf Uhr begann er, wie Eva Simplon, sich zu fragen, ob es vielleicht nicht doch Gespenster gab. Wie sonst ließe sich erklären, dass jemand durch Wände gehen konnte? Irgendwann ist das Irrationale nicht mehr irrational, da es zur einzigen rationalen Erklärung wird.
    Um halb zwölf riss ihn ein Geräusch aus seiner Lektüre.
    Schritte. Leichte, leise Schritte. Nicht im Entferntesten die von Sylvie.
    Er löschte das Licht und ging zur Tür, schob das Federbett beiseite und öffnete sie einen Spaltbreit.
    Im Erdgeschoss musste jemand sein.
    Kaum hatte er dies gedacht, erschien auch schon der Kahlköpfige an der Treppe. Behutsam jedes Geräusch vermeidend, kam er nach oben, um dort seine Suche fortzusetzen.
    Rasch schloss Maurice seine Tür und stemmte sich dagegen, um den Eindringling gegebenenfalls am Hereinkommen zu hindern. Im Bruchteil einer Sekunde war er schweißgebadet, schwitzte dicke Tropfen, spürte sie über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher