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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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oder?«
    »Mich interessiert nicht,
warum
sie auf einem Bahnsteig wartet, sondern
wen
sie dort erwartet. Auf wen nur kann man so warten, über Jahre, praktisch ein Leben lang?«
    »Beckett, auf Godot.«
    »Ein Täuschungsmanöver! Es ging ihm darum zu zeigen, dass die Welt absurd ist, dass es keinen Gott gibt und wir falsch daran tun, uns auch nur irgendetwas von diesem Leben zu versprechen. Beckett ist ein Ausputzer, er fegt dir den Himmel und die Erde rein und befördert deine sämtlichen Hoffnungen, diesen stinkenden Unrat, in den Müll. Das Interessante an der Frau mit dem Blumenstrauß ist für mich, dass ihr Verhalten zwei Fragen aufwirft, nämlich »Auf wen warten wir?« und »Ist es richtig zu warten oder falsch?«.
    »Hier, ich gebe dich mal an den Chef weiter, er hat uns zugehört und will dir etwas vorlesen.«
    »Eric? Ich habe da etwas für dich. Nur ein Satz. ›Das Interessante an einem Rätsel ist nicht die Wahrheit, die es verbirgt, sondern das Geheimnis, das es enthält‹.«
    »Danke, dass du mich zitierst, Egon.«
    Ich legte auf. Wahrscheinlich lachten sie jetzt am anderen Ende der Leitung über mich.
    Vergangenes Frühjahr fuhr ich noch einmal mit dem Zug nach Zürich, zu einer Lesung. Und natürlich, kaum stieg ich in mein Abteil, dachte ich nur noch an sie. Ich freute mich auf diese friedliche, lächelnde, treue Frau, gleichgültig gegenüber allen und konzentriert auf etwas, das wir nicht kannten. Wir hatten sie nur für ein paar Sekunden wahrgenommen und stundenlang über sie gesprochen, als wäre sie eine geheimnisvolle Sphinx, ein unerschöpflicher Nährboden für unsere Phantasie.
    Als wir uns Zürich näherten, dachte ich, dass wir eines sicher wussten: Keiner von uns war der, auf den sie wartete. Unser Schweigen, unser mangelndes Interesse, der Sache weiter auf den Grund zu gehen, unser zeitweiliges Vergessen, hatten sie etwa damit zu tun, mit dieser Erniedrigung, mit der Tatsache, dass sie durch uns hindurchsah, als existierten wir nicht?
    »Zürich!«
    Kaum hatte ich meinen Fuß auf den Boden gesetzt, bemerkte ich, dass sie nicht da war. Ein paar Schaulustige hatten Bahnsteig drei gerade den Rücken gekehrt – er war leer.
    Was war mit ihr geschehen?
    Während ich mit der Straßenbahn durch Zürich fuhr, verbot ich mir, mich in Vermutungen zu ergehen. Ulla musste es wissen, Ulla wusste Bescheid, Ulla würde es mir sagen. Und so begnügte ich mich damit, diese ungewöhnliche, zugleich wohlhabende und bescheidene Stadt zu betrachten, ein Großmuttertraum, eine Stadt, in der die Häuser aussehen, als hätte man sie um die üppigen Geranien auf den Fenstersimsen herumgebaut, eine friedliche Stadt, die so verschlafen wirkt wie der See, der an ihrer Seite ruht, während hinter dicken Mauern Tausende Geschäfte mit großem wirtschaftlichen Einsatz getätigt werden. Zürich hat nichts Geheimnisvolles und wirkt daher immer geheimnisvoll auf mich: Wir Südländer halten alles, was unsauber, undurchschaubar und verschwenderisch ist, für abenteuerlich, das brave, saubere, solide Zürich hingegen, in dem nichts, aber auch nichts befremdlich ist, wirkt befremdend auf uns. Es hat den Charme eines eleganten, smokingtragenden Liebhabers, eines vorbildlichen Sohnes und idealen Schwiegersohnes, der, kaum ist die Tür hinter ihm geschlossen, zu den schlimmsten Ausschweifungen fähig ist.
    Im Ammann Verlag erledigte ich zuerst meine Pflichten – Besprechungen und Programm –, ehe ich in einer Pause Ulla zwischen Tür und Angel fragte:
    »Was ist eigentlich aus der Frau mit dem Blumenstrauß geworden?«
    Sie verdrehte bestürzt die Augen.
    »Sobald wir Zeit haben, erzähle ich es dir.«
    Am Abend, nach der Lesung, nach Signierstunde und Abendessen, gingen wir erschöpft zurück ins Hotel. Wir ließen uns, ohne ein Wort zu wechseln, in der Bar nieder, deuteten auf die Cocktails, die wir wollten, anschließend schaltete ich mein Handy aus und Ulla zündete sich eine Zigarette an.
    »Also?«, fragte ich.
    Ich musste nicht genauer werden. Sie wusste, was ich hören wollte.
    »Die Frau mit dem Blumenstrauß hat auf etwas gewartet, was gekommen ist. Deshalb ist sie auch nicht mehr da.«
    »Was ist geschehen?«
    »Mein Freund von der Gepäckaufbewahrung hat mir alles erzählt. Vor drei Wochen stand sie plötzlich von ihrem Sessel auf, strahlend und mit einem Entzücken in den Augen. Sie streckte die Hand aus und winkte einem Mann zu, der aus einem Waggon stieg, er bemerkte sie sofort. Sie warf sich in seine
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