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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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erklären. Niemand würde es ihm übel nehmen, wenn er sich weigerte, ihr Rede und Antwort zu stehen und einer Frau, der er zuvor nie begegnet war, die Bilder seines toten Freundes zu zeigen, die der Öffentlichkeit verborgen blieben.
    Es war heute ohnehin fast zu windig, um aus dem Haus zu gehen; der Staub und die letzten toten Herbstblätter, die durch die Straßen Roms fegten, hatten ihm auf den Weg hierher zu schaffen gemacht, und er hatte mehr als einmal zum Himmel geblickt, halb hoffend, halb fürchtend, dass ein Gewitter die Spannung in der Luft tilgen würde. Noch vor ein paar Jahren hätte er nichts davon bemerkt. Vielleicht war es wirklich so, dass man jenseits der Dreißig alt wurde.
    „Signore“, sagte sie und neigte ihr Haupt, als sie ihn sah.
    Montojo wusste, dass es noch vor ein paar Wochen undenkbar für sie gewesen wäre, ihn anzusprechen. Sie war ein Mädchen aus gutem Haus, das hatte ihr Vater immer wieder betont, als er den Mann vor Gericht brachte, der einst sein Freund und Kollege gewesen war und nun der Vergewaltiger seiner Tochter. Mädchen aus gutem Haus redeten nicht mit fremden Männern und schon gar nicht mit solchen, die nichts als Diener im Haushalt großer Herren waren. Wenn sie es doch taten, dann gewiss nicht in so höflicher Weise.
    Andererseits war Pedro Montojo, streng genommen, kein Mann. Er war Kastrat; seine Stimme diente dazu, den ehrwürdigen Kardinal Francesco Maria Bourbon del Monte zu ergötzen. Dies war sein einziger Daseinszweck geworden, seit sein Körper der Knabenhaftigkeit entwachsen war; in seiner frühen Jugend hatte es noch andere gegeben. Der Gedanke daran war für ihn wie eine endlich verheilte Wunde, deren Narben gleichwohl zu sichtbar und empfindlich waren, um sie zu leugnen.
    „Signorina Gentileschi“, sagte er, und man hörte kein Echo seines kastilischen Akzentes mehr in dem weichen Italienisch. Montojo konnte sich kaum noch an seine Heimat erinnern. Sein Leben – sein wahres Leben – hatte hier begonnen. In Rom.
    „Signora Stiatessi“, verbesserte sie ihn und setzte, als sie seinen erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, schnell hinterher: „Seit gestern. Doch das tut nichts zur Sache. Nichts ist wichtig heute, außer dem Anliegen, das mich hierher führt. Ich werde Rom bald verlassen, Signore, und gewiss nicht zurückkehren. Doch die großen Bilder des Meisters sind alle hier, in dieser Stadt. Ich kann nicht gehen, bis ich nicht die wichtigsten gesehen habe.“
    Maler , dachte Montojo und spürte die alte Aufwallung aus Bewunderung und Groll. Sie sind alle gleich. Laut erwiderte er nur: „Deswegen bin ich hier. Doch seine Bekehrung des Heiligen Paulus und die Kreuzigung Petri in dieser Kirche dürften Euch bereits vertraut sein, nicht wahr? Gewiss hat Euer Vater sie Euch …“
    „Man kann sie nicht oft genug sehen“, schnitt sie ihm das Wort ab. Ihre Stimme hatte nun einen herrischen Ton, der Montojo missfiel, obwohl er ihn kannte; kein Diener würde jemals ohne den besonderen Klang leben. Doch dies war eine andere Situation, und er merkte, wie sich erneut Widerwille in ihm regte.
    „Verzeiht“, lenkte sein Gegenüber ein, als könne sie Gedanken lesen. „Ja, ich kenne die Bilder. Dies ist immerhin unsere Pfarrkirche. Doch irgendwo muss man einen Anfang machen.“
    Montojo verbeugte sich und schritt mit ihr in die Cerasi-Kapelle. Santa Maria del Popolo war einmal die Kapelle eines Augustiner-Klosters gewesen, doch von der Bescheidenheit des Bettelordens spürte man dieser Tage nichts mehr. Mehrere der großen Familien Roms hatten hier ihre Grabmäler, und ihre reichen Stiftungen hatten dafür gesorgt, dass überall Marmor und Gold prangten; von der Kuppel leuchtete in Azurtönen die Schöpfungsgeschichte herab.
    Montojo war sich sicher, dass der Meister gewiss nicht mit diesen Bildern begonnen hätte; er hörte ihn noch mit seiner zornigen Stimme fluchen, der Kardinal – „Der alte Geizkragen!“ – habe es gewagt, daran herumzukritteln und eine neue Version zu verlangen.
    „Aber dann musst du sie malen“, sagte seine eigene jugendliche Stimme, „vergiss nie, wir sind nur die Diener der großen Herren.“
    „Du vielleicht, Pedro mio“ , entgegnete der Mann aus Caravaggio in seiner Erinnerung. „Sei ein Diener, wenn du dich dazu machen lässt. Ich bin das Instrument Gottes.“ Seufzend hatte er nach einer kurzen Pause eingeräumt: „Aber Gott begleicht nicht meine Rechnungen, also hast du recht, und ich werde eine neue Version
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