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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske
Autoren: Helene Henke
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sich hier versammelt zu haben. Ein Löschzug versperrte den Schaulustigen die Sicht zur Kapelle, so dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als von der anderen Straßenseite aus die Hälse zu recken. Zoe beachtete sie nicht weiter, sondern humpelte hinter Leon her auf einen Streifenpolizisten zu. Feuerwehrleute standen scheinbar tatenlos vor der Eingangstür, den Löschschlauch im Anschlag.
    »Wir können nicht anfangen, weil die Zielperson sich noch im Gebäude befindet«, informierte der Polizist sie.
    Zoe schob sich an den Beamten vorbei in die Kapelle hinein. Rauchschwaden hingen in der Kuppel. Schwarz uniformierte Männer der Sonderkommission entweihten den Ort mit ihren gezogenen Waffen. In jedem Winkel der kleinen Kapelle waren sie positioniert oder schlichen geduckt zwischen den leeren Holzbänken herum. Zwei von ihnen hatten auf halber Strecke zur Kanzel haltgemacht und hockten dort auf der Treppe. Die Pistolen waren auf Zoes Mutter gerichtet.
    Der Anblick ließ Zoe im Mittelgang verharren. Mit offenem Mund starrte sie zur Kanzel hinauf. Die Augen ihrer Mutter waren in die Ferne gerichtet. Ihr Blick entrückt. Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und wehten in der Hitze des Feuers, welches hinter ihr züngelte und sie wie eine flammende Ikone einrahmte. Die Arme ausgestreckt, hielt sie in beiden Händen jeweils eine Altarkerze. Beste Voraussetzungen für den Tod als Märtyrerin.
    Zoe brauchte einen Moment, um die Situation zu erfassen.
    »Frau Lenz, legen Sie die Kerzen beiseite, und kommen Sie herunter!« Leon war neben Zoe getreten, ebenfalls mit gezogener Waffe.
    Wie erwartet, reagierte ihre Mutter nicht auf Zurufe. Sie hatte längst die Welt um sich herum verlassen. Befand sich im Delirium religiöser Ekstase und wartete nur auf eines der Zeichen, die nur sie vernehmen konnte, um die Kerzen an ihr Kleid zu halten. Die schreckliche Ahnung, dort oben keinen Apostel, sondern eine dreifache Mörderin zu sehen, raubte Zoe beinahe den Atem. Entschlossen drückte sie Leons Arm hinunter.
    »Auf der hinteren Seite der Kanzel befindet sich eine kleine Kammer mit einer Stiege dort hinauf.«
    Er senkte seinen Arm, machte aber keine Anstalten, zu gehen.
    »Mama, hör sofort auf damit!«
    Zoe hatte fast vergessen, wie eine erhobene Stimme aus den Erkern der Kapelle widerhallte. Der Kopf ihrer Mutter drehte sich ruckartig in ihre Richtung. Ringsherum rasteten die Magazine von Pistolen ein. Meine Güte! Befürchteten die Polizisten, dass Isobel sie mit zwei brennenden Kerzen bewarf?
    Schnell gebot Zoe den Polizisten mit einer Geste Einhalt, damit sie nicht auf die Idee kamen, tatsächlich zu schießen.
    »Da ist mein Mädchen. Seht sie euch an! Geläutert und gereinigt durch Abrahams Gebot. Nur der Tod bringt unser Heil.«
    Mit gewohnter Kraft erhob sich die Stimme ihrer Mutter. Doch der Eindruck täuschte. Ihre Augen wiesen nach wie vor einen fiebrigen Glanz auf.
    Zoe musste versuchen, sie zurückzuholen. »Ich bin bei dir, Mutter! Schau her! Ich stehe hier.«
    »Gottes Wege sind unergründlich. Der Herr hat mich sehend gemacht, zu erkennen sein wahres Zeichen. Nicht der Sohn sollte geopfert werden, sondern der Gehörnte.«
    Ein Zucken ging durch ihren Körper, als würde sie aus einem Traum erwachen. Sie blinzelte, schüttelte unmerklich den Kopf. Ihr Blick veränderte sich, richtete seinen Fokus nun auf Zoe. Doch der Schein trog. Von einer Ebene des Wahnsinns auf die nächste zu steigen, entfernte nur noch mehr vom Leben.
    »Sie waren zutraulich wie kleine Hunde, und dann haben sie sich gewunden wie Würmer. Es war so einfach … es war notwendig, Zoe!«

    Ein Speer aus Eis schoss durch Zoes Wirbelsäule. Verstört blinzelte sie zu ihrer Mutter hinauf.
    »W… was meinst du damit?«
    »Ich bin Gottes Dienerin, predige Sein Wort und sühnte in Seinem Namen die Taten des Widders. Beschmutzt hat er das reine Kind. In Sünde gezwungen. Gewunden hat er sich wie ein Wurm, als die Nadel in seine Brust eindrang und die Essenz durch ihn hindurchfloss.«
    Leon beugte sich zu Zoe. »Sie beschreibt, wie sie den Opfern die E-605-Injektion gesetzt hat. Mit Widder meint sie anscheinend Boris Nauen.«
    Zoe wusste nicht genau, ob sie Leons pragmatische Übersetzung überhaupt hören wollte. Ihre Nebenhöhlen schmerzten, sie spürte Tränen aufkommen.
    Etwas veränderte sich, als schien ihre Mutter einen Blick durch ein winziges Fenster auf die Realität zu werfen. Dabei löste sich die Anspannung in ihren
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