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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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nachgedacht hatte, klarmachte, was es bedeutete, daß Anne Scott diejenige gewesen war, die ihn aufgefordert hatte, den Vortrag zu halten. Das hieß nämlich, daß niemand sonst in der Literarischen Gesellschaft Charles Richards zu Gesicht bekommen hatte, sie war also die einzige, die ihn kannte und hätte merken können, daß nicht er da auf dem Podium stand, sondern Conrad. Aber da sie nun tot war … Ein gewisses Risiko sind die Richards schon eingegangen, weil sie natürlich nicht wissen konnten, wer an dem Abend im Publikum saß. Andererseits war dieses Risiko aber nicht allzu groß. Die beiden sind keine bekannten Persönlichkeiten. Sie haben es verstanden, sich auf einem sehr abgegrenzten Gebiet zu spezialisieren und einen florierenden Verlag aufzubauen; aber es ist und bleibt ein kleinerer Verlag. Abgesehen davon – selbst die Chefs unserer großen Verlage sind in der Öffentlichkeit weithin unbekannt, vielleicht weiß man ihren Namen, aber niemand würde sie auf der Straße erkennen. Und hinzu kommt, daß die Richards ja erst vor gerade drei Monaten nach Oxfordshire gezogen sind, und ihre Firma hat ja ihren Sitz nicht einmal in Oxford selbst, sondern etwas außerhalb in Abingdon. Unter diesen Umständen hielt sich das Risiko, wie schon gesagt, in Grenzen, und sie waren bereit, es darauf ankommen zu lassen. Sie folgten demselben Muster wie schon am Mittwoch bei der Hinterlegung des erpreßten Geldes. Da hatte Conrad so getan, als sei er Charles, und den Rolls gesteuert, während Charles Jackson auf dem Fahrrad zum Canal Reach folgte.
    Ich glaube, diese Rollenverteilung hat ihren Grund nicht nur darin, daß es ja Charles war, der das Problem hatte, so daß Conrad schon von daher nur die Aufgabe des Helfers zufiel; sie kam wohl auch dem Naturell der beiden entgegen. Charles war immer der Energischere, Vorwärtsdrängende, und Conrad war zeit seines Lebens zufrieden, hinter ihm zurückzustehen und unauffällig im Hintergrund zu wirken. Am Freitag tauschten sie also erneut ihre Identität: Conrad trat unter dem Namen von Charles vor der Oxforder Literarischen Gesellschaft auf und hielt einen Vortrag mit dem Titel Sorgen und Freuden eines kleinen Verlegers, während Charles inzwischen Jackson einen Besuch abstattete. Charles hatte seine Notizen sicherlich schon eine Zeitlang fertig, und ohnehin war wohl Conrad derjenige, der mehr Know-how besaß. Conrad ist ja ein eher schüchterner Mensch, und ein brechend voller Saal hätte ihn vielleicht irritiert, die Veranstaltungen der Oxforder Literarischen Gesellschaft sind jedoch in der Regel nur mäßig besucht, und in diesem speziellen Falle hatte die kurzfristige Vorverlegung des Termins (die übrigens auf Charles Richards’ Wunsch erfolgte) bewirkt, daß nicht mehr als gerade mal fünfundzwanzig Zuhörer erschienen. Aber ich möchte jetzt wieder zurückkommen zu Charles. Als er sich entschloß, Jackson aufzusuchen, war ihm sicher von vornherein klar, daß Gewaltanwendung nicht auszuschließen war. Das heißt aber nicht, daß er den Vorsatz gehabt hätte, ihn umzubringen. Sein Ziel war es, den Brief wieder an sich zu bringen. Um dieses Ziel zu erreichen, war er zu so ziemlich allem bereit. Ich nehme an, daß er zunächst versucht haben wird, Jackson einzuschüchtern, aber der war ein zäher kleiner Bursche. Ich stelle mir vor, daß weder er noch Richards nachgeben wollten. Richards konnte, von seiner Warte aus gesehen, auch gar nicht nachgeben. Der Brief und die Tatsache, daß Anne wenige Stunden, nachdem sie ihn erhalten hatte, Selbstmord beging, legten den Schluß nahe, daß er der eigentlich Schuldige an ihrem Tod sei. Er mußte fürchten, daß, wenn dies publik würde, auf welche Art auch immer, es sowohl das Ende seiner Ehe bedeuten würde als auch seinen Ruf als Ehrenmann – und damit die Firma – gefährden würde. So gerät er wohl angesichts von Jacksons Widerstand in Wut, wahrscheinlich auch in Panik; und im Schlafzimmer verliert er dann die Beherrschung und behandelt Jackson so rabiat, daß der mit dem Kopf gegen den scharfkantigen Bettpfosten schlägt. Nun war er natürlich erst recht in der Bredouille. Er kann sich denken, daß wir eine Beziehung herstellen werden zwischen dem Selbstmord von Anne Scott und dem Mord – die beiden Ereignisse liegen ja nicht einmal zwei Wochen auseinander – und daß wir im Laufe unserer Ermittlungen irgendwann auch auf seinen Namen stoßen werden. Er ist offenbar ein Mann schneller und gutdurchdachter Entschlüsse,
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