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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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Prolog
     
    Und ich frag mich,
    wie hätten sie zusammenfinden sollen!
    T. S. Eliot, La Figlia Che Piange
     
    Schön ist sie eigentlich nicht, dachte er. Einmal vorausgesetzt, Schönheit ließe sich überhaupt objektiv messen: sub specie aeternae pulchritudinis sozusagen. Sie waren einander gleich zu Anfang vorgestellt worden und hatten dabei nur die üblichen Höflichkeitsfloskeln gemurmelt. Doch seither waren sich ihre Blicke über den Raum hinweg immer wieder begegnet, und sie hatten sich für Momente in die Augen gesehen. Nach seinem dritten Glas Rotwein – die Sorte war gar nicht übel – gelang es ihm, sich dem kleinen Kreis von drei, vier flüchtigen Bekannten, mit denen er zusammengestanden hatte, unauffällig zu entziehen.
    Die Gastgeberin Mrs Murdoch, eine stattliche Frau Ende vierzig von bisweilen geradezu einschüchternder Energie, begann eben die ersten Gäste mit freundlicher Bestimmtheit in Richtung auf das kalte Büffet zu dirigieren, das am anderen Ende des großen Raumes auf einigen Tischen angerichtet war. Als sie an ihm vorbeikam, trat er einen Schritt auf sie zu und sprach sie an.
    »Ein netter Abend!«
    »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten. Jetzt dürfen Sie aber auch nicht die ganze Zeit allein hier herumstehen. Sie sollten ein bißchen auf die Leute zugehen! Habe ich Sie übrigens schon bekanntgemacht mit …?«
    »Danke, lassen Sie nur. Ich werde mich umsehen. Versprochen.«
    »Ich habe den meisten hier schon von Ihnen erzählt.«
    Er nickte nur, ohne allzu große Begeisterung zu zeigen, und blickte ihr aufmerksam in das großflächige, nicht besonders anziehende Gesicht. »Sie sehen gut aus.«
    »Ich fühle mich auch gut.«
    »Was machen die Jungen? Die müssen doch jetzt auch schon (ja was eigentlich?) äh … bald erwachsen sein?«
    »Michael ist achtzehn. Edward siebzehn.«
    »Wie doch die Zeit vergeht! Da sind sie wahrscheinlich bald mit der Schule fertig?«
    »Michael hat nächsten Monat Abitur.« (»Das kalte Büffet ist dort hinten, Rowena. Bitte bedien dich.«)
    »Ich hoffe, er verfügt über die nötige Ruhe und Zuversicht?«
    »Mir scheint, als sei Zuversicht eine reichlich überschätzte Haltung. Finden Sie nicht auch?«
    »Ja, vielleicht haben Sie recht«, antwortete er etwas zögernd. Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. (Täuschte er sich, oder hatte er in Mrs Murdochs Augen ein leichtes Unbehagen bemerkt?) »Weiß er schon, was er studieren will?«
    »Biologie, Französisch und Wirtschaftswissenschaften.« (»Ja, dort hinten. Bitte nehmen Sie sich selbst.«)
    »Ach, wie interessant«, sagte er, während er sich im stillen fragte, welche Gründe den jungen Murdoch bewegen haben mochten, so weit auseinanderliegende Fächer zu wählen. »Und Edward? Was …?«
    Er sprach ins Leere, denn Mrs Murdoch war schon weitergegangen und kümmerte sich um andere Gäste. Er fand sich auf einmal allein. Seine Gesprächspartner von vorhin beugten sich inzwischen am anderen Ende des Raumes über diverse Häppchen, kalten Braten und Salate, stießen ihre Gabeln in Hühnerbrüstchen und beluden sich die Teller mit Krautsalat. Er fixierte ungefähr zwei Minuten mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen die nahe Wand, und man hätte meinen können, er sei in eine kritische Betrachtung des dort hängenden Aquarells versunken, das offensichtlich das Werk eines dilettierenden Freizeitmalers war. Doch dann setzte er sich plötzlich in Bewegung. Vor dem kalten Büffet hatte sich eine Schlange gebildet. Sie stand ganz am Ende, und er stellte sich hinter sie.
    Er wagte einen Vorstoß. »Sieht gut aus, nicht?« Keine besonders originelle Bemerkung, aber sie hatte ihren Zweck erfüllt, denn sie wandte sich zu ihm um. »Hungrig?« fragte sie. Hatte er Hunger? Er wußte es nicht. Aus der Nähe sah sie noch anziehender aus mit ihren großen dunklen Augen und dem zarten, klaren Teint. Sie lächelte ihn an.
    »Ein bißchen vielleicht«, sagte er.
    »Ich glaube, Sie essen zuviel.« Sie legte ihre Hand dorthin, wo sich unter dem weißen Hemd sein Bauch abzeichnete, und spreizte die Finger. Das Hemd hatte er extra für diesen Abend gewaschen und gebügelt – eigenhändig. Ihre Finger waren schlank und kräftig, die Nägel sorgfältig manikürt und dunkelrot lackiert.
    »Aber alles in allem bin ich doch noch ganz passabel, oder?«
    Er genoß die Situation, und seine Stimme klang übermütig, fast wie die eines Schuljungen.
    Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und tat so, als versuche sie, seine
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