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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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haben, und ich bekomme meine längst überfällige Beförderung.«
    Der Lieutenant trat ganz dicht an Diaz heran. »Nein, Hector, ich werde Sie nicht erschießen«, sagte er und holte mit seiner 45er aus. »Aber ich werde mich jetzt für den Abend vor ein paar Tagen in Ihrem Büro revanchieren.«
    Im letzten Moment tauchte Diaz seitlich unter dem herabsausenden Revolverlauf weg. Der Geist von Ehécatl , der in dem von Diaz’ Hals herabbaumelnden Amulett wohnte, stieg wie eine metallisch schimmernde Fledermaus in die Höhe und zog Morales’ Aufmerksamkeit auf sich. Vielleichtwar es aber auch nur das Licht, das von den Glassplittern der zertrümmerten Vitrine reflektiert wurde.
    Diaz landete auf dem Boden, rollte sich ab und kam vor Dillingers Schreibtisch, auf dem der SS-Dolch neben einem Stapel ungeöffneter Briefe lag, wieder auf die Beine. Ohne darüber nachzudenken, packte er den Dolch, schwenkte ihn herum und zog die doppelseitig geschliffene Klinge mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in einem waagerechten Bogen durch Morales’ Gedärme. Sie schlitzte die Bauchdecke des Lieutenants genauso mühelos auf, wie ein Kampfstier sein Horn in den ungeschützten Bauch eines picador -Pferdes bohrte.
    Ein Ausdruck grenzenloser Überraschung machte sich auf Morales’ Gesicht breit, als er an Diaz vorbeistolperte und sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Tisch stützte. Seine Eingeweide quollen aus dem klaffenden Schnitt in seinem Bauch. Dann verdrehte er die Augen zur Decke hin und sackte an der Schreibtischkante zu Boden. Diaz beobachtete ihn wachsam, doch es gab keinen Grund, ein weiteres Mal zuzuschlagen. Morales war tot.
    Da hast du deine Beförderung , dachte Diaz, den Blick auf Morales’ scharfe Züge und die blutgetränkte Fallschirmspringerhose gerichtet. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich das Gesicht des Lieutenants in eine toltekische Totenmaske.
    Diaz entfernte seine Fingerabdrücke vom Griff des Dolches und warf ihn neben Dillinger auf den Boden. Er schnupperte an der Mündung des schicken 38ers, bevor er ihn in der Tasche des Toten verstaute. Chrombeschichtet, Einlegearbeiten aus Knochen im Griff und seit ewigen Zeiten nicht mehr abgefeuert. Dillinger, der harte Bursche. Der Frauenmörder.
    »Weichei«, murmelte Diaz.
    Angesichts der Position der Toten war ihm klar, dass niemand an einen Zweikampf der beiden glauben würde. Doch alle anderen Umstände würden beweisen, dass Dillinger die beiden gringas getötet und verunstaltet hatte. Und niemand würde einen feuchten Dreck auf Morales geben. Kein narcocorrido würde seinem jämmerlichen Ableben eine Träne nachweinen.
    Aber war der Gerechtigkeit damit ausreichend Genüge getan worden? Nicht, soweit es Diaz betraf.
    Ein Relikt in einer der Vitrinen erregte seine Aufmerksamkeit. Er nahm das 600 Jahre alte Obsidianmesser in die Hand. Die Schneide des vulkanischen Glasgesteins war noch immer rasiermesserscharf.
    Mit zwei kreisförmigen Schnitten entfernte er Dillingers Augen, die sich so leicht aus ihren Höhlen lösen ließen wie zwei dicke Austern aus ihren Schalen. Er wickelte die blutverschmierten babyblauen Kugeln in sein Taschentuch, dann wischte er die Messerklinge und den Griff an Dillingers T-Shirt ab.
    Als er die Türflügel des Arbeitszimmers öffnete, herrschte sprichwörtliche Totenstille im Haus. Diaz trat in den Flur, verschloss die Glastüren und polierte die Türknäufe sorgfältig mit seiner Jacke. Die Indianerin war nirgendwo zu sehen, aber er entdeckte eine kleine Gästetoilette unter der Treppe, wo er Dillingers Augen in die Kloschüssel warf und herunterspülte. Er achtete gewissenhaft darauf, dass das Schloss einrastete, als er die Eingangstür hinter sich zuzog. Draußen auf der Straße knüllte er sein Taschentuch zusammen und ließ es in einen Gully fallen.
    Der nächtliche Nebel leckte wie mit einer kalten Zunge über den Rinnstein. Einige Straßenblocks weiter lockte warmesgelbes Licht, das aus der geöffneten Tür einer bodega fiel, mit dem Versprechen von Gastlichkeit. Diaz trat ein. Der Mezcal, in einem Zug hinuntergekippt, brannte in seiner Kehle. Als der Barkeeper von dem Glas aufblickte, das er gerade polierte, forderte Diaz ihn mit einem Nicken auf, ihm nachzuschenken.
    In einem Fach seines Portemonnaies entdeckte er die Visitenkarte der jungen Frau, die er während der Verkaufsausstellung in der Galería Rana kennengelernt hatte. Er erinnerte sich undeutlich an ihr hübsches Gesicht. Spontan wählte er die
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