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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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auf das plötzliche Ziehen in seiner Leistengegend war. Eigentlich handelt es sich bei Nekrophilie ja um eine abendländische Krankheit , dachte er. Wann habe ich mich wohl damit angesteckt?
    »Besorgt mir eine Decke!«, befahl er.
    Ortiz zog den Fotoapparat der Spurensicherung aus seinerTragetasche und begann, Aufnahmen von der Toten zu schießen. García schien Ewigkeiten zu brauchen, eine Decke aufzutreiben. Diaz nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass die Fotos nach ihrer Auswertung in der untersten Schublade seines Schreibtischs verschwanden.
    Als Ortiz endlich die Kamera sinken ließ, hatte er genug Bilder für ein ganzes Fotoalbum geschossen.
    Nachdem Frans sterbliche Überreste von einer Decke verhüllt auf einer Bahre aus ihrem Garten getragen wurden, um sie in Dr. Mozas Obduktionsraum zu bringen, ließ sich Diaz auf eine Couch in dem hellen Wohnzimmer fallen. Es war genau dieselbe Stelle, auf der er schon einmal gesessen hatte, damals, während seines ersten Besuchs in der Calle Terrapien Nr. 83. Einen Moment lang sah er Fran Kovacs wieder auf der anderen Seite des Kaffeetischs sitzen, das Kinn trotzig in die Höhe gereckt, während sie behauptete, keine Spur von Zuneigung mehr für Gregori Gregorowitsch zu empfinden. Kaum zwanzig Minuten später hatte sie einen Farbenspachtel ergriffen, um damit das pornografische Bild von Amanda zu zerstückeln. Nach ihrem grausamen Ende entpuppte sich all das als bloße Augenwischerei.
    Ortiz war verschwunden. Vermutlich durchwühlte er gerade die Schubladen mit Frans Unterwäsche in ihrem Schlafzimmer. García war draußen am Swimmingpool und sammelte Spuren.
    Diaz schloss die Augen. Auf der Leinwand seines Kopfkinos liefen kurze Ausschnitte des letzten Traums, an den er sich erinnern konnte. Der goldene Körper einer Frau, die sich durch himmelblaues Wasser schraubte. Eine Fontäne aus Schaum, als sie die Wasseroberfläche durchbrach. Dann der furchtbare Anblick ihrer leeren Augenhöhlen, der tiefe Schnitt durch ihre Kehle wie ein roter grinsender Mund.
    Woher war der Traum gekommen? Wie hatte er wissen können, dass sie sterben würde? Verwandelte er sich in einen beschissenen Psychopathen, oder verlor er ganz einfach nur den Verstand?
    Die Leute hatten behauptet, sein Großvater hätte eine besondere Gabe gehabt. Dass er die Fähigkeit besaß, Kontakt zur Unterwelt aufzunehmen. Diaz hatte über diese Geschichten stets nur lächeln können. Der Mann war sein Großvater und Mentor gewesen. Er hatte ihn ohne Vorbehalt geliebt. Aber mit den Toten zu sprechen oder die Zukunft vorherzusagen, war für ihn immer absoluter Unfug gewesen.
    Doch nach der gestrigen Erscheinung von Ehécatl hatte er plötzlich den so sicher geglaubten Boden unter den Füßen verloren. Auf einmal wusste er nicht mehr, was er von dem Hang des alten Mannes zum Okkulten halten sollte. Sie waren gemeinsam durch entlegene Gegenden gewandert, hatten tief in den Bergen gecampt und unberührte aztekische Grabstätten geöffnet. Der Tod des alten Mannes hatte eine Leere in Diaz hinterlassen, die durch nichts gefüllt werden konnte. Blutende Male waren auf seiner Brust, auf seinen Händen und seinen Füßen erschienen und erst im Lauf eines Jahres allmählich wieder verschwunden.
    Da er sich immer noch weigerte, die Existenz eines übernatürlichen Elements in Bezug auf seinen Großvater zu akzeptieren, suchte Diaz Zuflucht in der Anzahl von Mördern, die er während der letzten zwanzig Jahre ohne die Hilfe von Séancen, Parapsychologie und ähnlichem Hokuspokus zur Strecke gebracht hatte. In diesem Fall aber war er noch nicht am Ziel, allen überwältigenden Belegen für Gregorowitschs psychotischen Geisteszustand zum Trotz. Das sagte ihm sein sechster Sinn.
    Wo war der Fehler?
    Seine Finger strichen über einen Gegenstand in seiner Tasche. Er zog ihn hervor. Es war ein zusammengefaltetes Blatt Schreibmaschinenpapier. Die Nachricht, die Gregorowitsch Fran Kovacs geschrieben hatte. Der Buchstabe X stand in dreifacher Ausfertigung über der Unterschrift. Jedes X war schief geneigt – drei betrunkene paisanos .
    Er schob das Blatt zurück in seine Jackentasche und starrte finster vor sich hin. Hoffnungslosigkeit hatte sich wie ein düsteres Leichentuch über Frans Wohnzimmer gelegt.
    Er hatte sie wirklich anrufen wollen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie ihn eingeladen, sie zu besuchen. Und wie er war sie nikotinsüchtig gewesen.
    Aber jetzt war sie … fini . Diaz warf die Hände in die Luft, als
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