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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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noch fahrig und todmüde war. Er verließ die Kirche und trat ins helle Sonnenlicht hinaus. Vor den Kirchenstufen entdeckte er den Karren eines Obstverkäufers und nutzte die Gelegenheit, ein Glas frisch gepressten Guavensaft zu trinken.
    Armando erwartete ihn bereits am Eingang des Reviers. Er wirkte angespannt, woraus Diaz sofort schloss, dass sich Felicias Zustand im Laufe der Nacht verschlechtert haben musste.
    »Nein, nein, Felicia ist nichts passiert«, beruhigte ihn Armando. »Es geht ihr gut. Als ich auf dem Weg hierher bei ihr im Krankenhaus vorbeigeschaut habe, hat sie aufrecht in ihrem Bett gesessen, einen Teller huevos y frijoles gegessen und Zeitung gelesen.«
    »Und warum dann diese besorgte Miene?«, wollte Diaz wissen.
    »Vor zehn Minuten ist eine blonde gringa ins Revier gestürmt und hat verlangt, den Chef der Abteilung zu sprechen«, berichtete Armando. »Sie hat wie ein Wasserfall gequasselt und irgendwas davon erzählt, dass ihr Freund angeblich ein Serienmörder ist. Ich habe sie in dein Büro gebracht.«
    »Wo ist der Rest der Truppe?«
    »Ortiz ist noch nicht aufgetaucht. Quevedo war die ganze Nacht über auf den Beinen und hat in einem der Hotelsrumgeschnüffelt, wo in die Zimmer eingebrochen worden ist. García ist zu einem Einsatz gerufen worden. Damit bleibe nur noch ich übrig.« Armando richtete sich kerzengerade auf, die Finger an die Hosennähte gelegt, und trat einen Schritt vor wie ein Soldat, der die Befehle seines Vorgesetzten erwartet.
    »Kaffee, schwarz«, sagte Diaz. »Ich weiß nicht, was es mit dieser Frau auf sich hat.«
    Die Blondine, von der Armando gesprochen hatte, saß seitlich vor seinem Schreibtisch, den Blick auf die gerahmten Urkunden an der rückwärtigen Wand gerichtet. Sie hatte ein schönes, glattes, zu drei Vierteln nacktes Bein über das andere, ebenso schöne und nackte Bein geschlagen. Der Rest ihrer Oberschenkel verschwand unter einem winzigen gelben Sommerkleid, das mehr oder weniger den Körper einer gringa bedeckte, an die sich Diaz trotz seines extrem angespannten Zustands vage zu erinnern glaubte.
    »Kann ich Ihnen helfen, señora ?«, fragte er.
    Die Frau drehte sich zu ihm herum, ihre Augen huschten so unruhig umher wie zwei kleine Wildkätzchen. »Ich kenne Sie«, sagte sie.
    Das brachte Diaz einen Moment lang aus dem Konzept. Doch dann fiel ihm plötzlich wieder ein, wo er das knappe gelbe Kleid und die Frau, die es trug, schon einmal gesehen hatte. Auf der Terrasse des Cafés, das den jardín überragte. Das war letzten Samstag gewesen, vor einer Ewigkeit.
    »Inspector Hector Diaz«, stellte er sich vor und deutete eine Verbeugung an.
    »Gott sei Dank«, erwiderte die Blondine erleichtert.
    »Und Sie sind Jane Ryder.«
    Sie stand auf und strauchelte unvermittelt. Diaz sprang auf sie zu und fing sie auf, bevor sie zusammenbrechenkonnte. Ihre Achselhöhlen waren feucht und rochen ranzig. Armando stand wie erstarrt in der Tür, zwei Espressotassen in den Händen.
    »Tequila«, korrigierte Diaz seine Bestellung. Er ließ Jane wieder auf ihren Stuhl sinken.
    »Oje, wie dumm von mir«, murmelte sie. »Ich bin die ganze Nacht durch die Straßen geirrt.«
    »Das kann ziemlich gefährlich sein, señora «, sagte Diaz. Oder aber auch sehr lukrativ , fügte er in Gedanken hinzu.
    Ein schwacher Hauch von Rosenwasser schwang in dem Geruch nach abgestandenem Schweiß mit, den Jane verströmte. Armando überreichte Diaz ein Schnapsglas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
    Diaz gab das Glas an Jane weiter. »Trinken Sie!«
    Sie stürzte den Inhalt wie ein Profi in einem Zug hinunter. In der anderen Hand hielt sie ein paar zerknitterte Seiten Papier. »Ich habe Angst«, gestand sie.
    »Wovor?«
    Sie streckte die Hand mit den Blättern aus. Diaz nahm die mit Schreibmaschine beschriebenen Seiten entgegen.
    »Ich habe mir eingebildet, ich würde ihn lieben«, sagte Jane tonlos. »Aber jetzt glaube ich, dass er dieses Mädchen umgebracht hat.«
    »Welches Mädchen?«
    »Das auf den Gemälden in der Galería Rana .« Jane beobachtete Diaz, der hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und den Inhalt der Seiten überflog.
    »Ich habe sie in einer von Gregoris Taschen gefunden«, fuhr sie fort. »Ich glaube, es ist sein Tagebuch, das Tagebuch eines Massenmörders. Ich verstehe nicht, wie ich mich überhaupt in ihn verlieben konnte.«
    »Wir alle machen Fehler«, murmelte Diaz, noch immerauf die Schreibmaschinenseiten konzentriert. Als er aufblickte, loderte
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