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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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hinab.
    »Leo! Der hat bestimmt die Pest!«
    Doch ihren Worten zum Trotz folgte sie ihm dichtauf, fasziniert von diesem kleinen Mysterium in einer stillen und dunklen Nacht. Sie beugte sich über Leos Schulter und spähte auf die Gestalt mit den fließenden Konturen hinab, die, unter einer schwarzen Plane verborgen, auf dem Pflaster ausgestreckt lag.
    »Das ist eine Frau«, sagte Leo.
    Er ließ sich auf ein Knie nieder und riss ein Streichholz an. Im Licht der Flamme lugte der Stoff eines schwarzen Bauernkleides, das mit orangefarbenen und blauen Blumen bestickt war, unter einer groben, handgewobenen grauen Decke hervor. Unter dem Saum des Kleides waren zwei kleine nackte Frauenfüße zu sehen.
    »Ist sie tot?«, fragte Consuela. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen, außer meine Großmutter in ihrem Sarg.«
    Leo streckte einen Arm nach dem Rand der Decke aus. Consuela legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Finger krallten sich in den Stoff und das Fleisch darunter, als Leo die Decke zurückzog.
    Auf dem feuchten Boden lag der Leichnam einer jungen Frau. Wallendes blondes Haar schimmerte im schwachen Lichtschein des Streichholzes. An einem dünnen goldenen Kettchen um ihren Hals hing ein goldenes Kruzifix, das wie der verdorrte Kadaver eines exotischen Insekts auf den Pflastersteinen lag. Die Vorderseite des Kleides war zerfetzt worden, die Knöpfe waren gewaltsam aufgerissen, so dass das nackte Fleisch der Frau auf obszöne Art entblößt wirkte.
    Das Streichholz in Leos Fingern erlosch flackernd. Er riss ein weiteres an.
    Die ausgeprägten Wangenknochen der Toten waren die eines Starlets. Zwei Reihen kleiner weißer Zähne grinstenzwischen geschwollenen Lippen hervor. Leo und Consuela nahmen jede dieser Einzelheiten mit überdeutlicher Klarheit wahr. Doch ein Detail stand beherrschend im Vordergrund. Die Augenhöhlen der Frau waren gähnende, mit eingetrocknetem Blut umrahmte dunkle Löcher. Ein Anblick wie aus einem Alptraum, der auch nach dem Erwachen nicht verblassen sollte.
    Leos Gesicht erschlaffte wie ein geplatzter Autoreifen. Hinter seinem Rücken wollte Consuela einfach nicht mehr aufhören zu schreien.
    Als er ihr schrilles Heulen nicht länger ertragen konnte, drehte er sich um, holte aus und schmetterte ihr eine Faust auf die Nase. Betäubt durch den plötzlichen Schmerz, verschluckte sie ihre Schreie und würgte an dem Blut, das ihr aus der Nase schoss. Tränen sammelten sich wie glitzernde Glasperlen in ihren Augenwinkeln.

Kapitel 2
    Obwohl er sich hinterher an nichts erinnern konnte, hinderten die Nachwirkungen des Traumes Inspector Hector Diaz daran, wieder einzuschlafen. Eine undefinierte Zeitspanne lang lag er in der Dunkelheit wach und lauschte dem rhythmischen Rauschen seines Blutes.
    Schließlich schaltete er das Licht an, stand auf und ging ins Badezimmer, um zu urinieren. Seine Arm- und Beinmuskeln waren hart und dünn wie verknotete Seile, seine graugrünen Augen so durchscheinend wie Wassertropfen auf einer blechernen Regenrinne. Er nahm einen Anzug aus grauem Wollstoff aus dem Kleiderschrank – eine von vier identischen Garnituren, die dort hingen – und eine burgunderrote Seidenkrawatte. Dazu ein gestärktes weißes Hemd aus der Kommode.
    Nachdem er sich angekleidet hatte, blieb er einen Moment lang in dem engen Eingangsbereich des Apartmenthauses stehen, in dem er wohnte. Ein kalter Nieselregen sickerte seinen Nacken hinab. Heute Nacht würden selbst die Bettler zu Hause bleiben, dachte er. Er stellte den Kragen seines Jacketts hoch und tauchte in den nächtlichen Straßen unter. Hinter einer Biegung stieß er auf eine Treppe, die in undurchdringliche Schwärze hinabführte. Diaz zögerte kurz, als liefe er Gefahr, erneut in den Alptraum hineinzugeraten, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Dann schritt er zügig die Stufen hinunter. Kies knirschte unter seinen Schuhsohlen. Er ertastete einen Türknauf in der Dunkelheit, durchquerte eine Gasse, deren anderes Ende nur spärlich von einem trüben gelben Lichtschein erhellt wurde, und betrateine verräucherte Nachtkneipe, in der fünf oder sechs Stammgäste hockten.
    Der Priester, getarnt durch einen formlosen navyblauen Sweater und ein wollenes Barett, saß an einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes, ein Schnapsglas mit dunklem Rum vor sich. Er sah mit dem leeren Blick eines Fisches zu ihm auf, als sich Diaz auf dem Stuhl ihm gegenüber niederließ. Die Haut um seine Nasenlöcher herum war straff gespannt und farblos
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