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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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palacios aus dem 18. Jahrhundert. Oder waren es die in den 1930er Jahren nachträglich angebrachten braunen und gelben Bodenfliesen, deren lebhafte geometrische Muster das sonst so minimalistische Ambiente geradezu erschlugen? Höchstwahrscheinlich aber war in erster Linie der Leichnam des jungen Mädchens auf dem Seziertisch aus Edelstahl daran schuld.
    Inspector Diaz hakte die Absätze seiner auf Hochglanz polierten Schuhe über den Rand eines metallenen Papierkorbs und schob ihn dann wieder von sich, bis er halsbrecherisch weit zurückgelehnt auf den beiden Hinterbeinen des Holzstuhls balancierte. Sein Gesicht strahlte die asketische Leblosigkeit eines Konquistadors aus, dessen Liebe sich auf Gott und aztekisches Gold beschränkte. Doch irgendwo in den Tiefen seiner Augen, die an bodenlose cenotes erinnerten, glomm noch immer die fast erloschene Glut seiner Maya-Vorfahren. Zwischen seinen rötlich braunen Lippen klemmte ein Zigarettenstummel.
    Diaz’ Blick folgte einer braunen Spinne, die an der weißgetünchten Wand neben ihm hinaufkrabbelte. Er hätte sie jederzeit mit einem beiläufigen Schlag der flachen Hand in einen konturlosen bräunlichen Matschfleck verwandeln können, doch er hegte keinen Groll gegen die Spinne.
    »Ihr Genick ist gebrochen. Die Augen wurden erst nach ihrem Tod entfernt. Deshalb gab es auch nur so wenig Blutam Fundort. Da die Leichenstarre noch nicht vollständig eingesetzt hat, schätze ich, dass sie ungefähr zwei Stunden vor ihrer Entdeckung gestorben ist.«
    Die knappe Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses stammte von einem Mann in einem weißen Kittel, der Diaz den Rücken zuwandte und sich mit penibler Sorgfalt die Hände über einem Waschbecken aus Edelstahl einseifte. Seine grauen Haarstoppeln waren so fein und samtweich wie die Fasern einer Plüschtapete in einem Bordell.
    »Also handelt es sich bei dem Mörder um einen Mann.«
    »Oder um eine sehr starke Frau.« Nachdem er das Reinigungsritual beendet hatte, drehte sich Dr. Nicholas Moza zu Diaz um und trocknete sich die Hände an einem frischen Leinentuch ab.
    »Sie ist nicht im jardín getötet worden«, fuhr er fort. »Ihre Fersen weisen deutliche Abschürfungen auf, die daher stammen, dass sie über das raue Straßenpflaster geschleift worden ist, bevor man sie dort abgelegt hat, wo sie gefunden wurde.«
    »Wenn sie auf diese Weise transportiert worden ist, bedeutet das, dass sich nur eine Person an ihr zu schaffen gemacht hat.«
    »Vermutlich.«
    »Aber warum sollte der Täter sie an einem so öffentlichen Ort zurücklassen?«
    »Vielleicht ist er in Panik geraten. Oder es handelt sich um irgendeine perverse Art von Exhibitionismus.«
    Diaz ließ seinen Stuhl mit einem abrupten Ruck wieder in die Waagrechte kippen und stand auf. Er nahm einen letzten tiefen Zug von seiner Zigarette und drückte den Stummel in einem gläsernen, von einem schmiedeeisernenStänder gehaltenen Aschenbecher aus, in dem bereits sechs Zigarettenstummel derselben Marke lagen.
    »Oder als Botschaft, als unmissverständliche Warnung an andere«, sagte der Arzt.
    Diaz konnte die weichen Rundungen des toten Mädchens am anderen Ende des Raumes sehen. Die bleiche Haut schimmerte im fluoreszierenden Licht in einem dunklen Blau. Der Inspector durchquerte den Raum mit zwei Schritten und starrte auf den Seziertisch hinab. Die Brüste des Mädchens waren zu üppig für ihren zierlichen Körperbau, der schmal, beinahe ausgemergelt wirkte. Rötlich blondes Haar kräuselte sich in ihren Achselhöhlen und zwischen ihren Beinen, die nicht rasiert waren. Ein dunkelroter Fleck an ihrem Nacken verriet die Stelle, wo ihr das Genick gebrochen worden war. Moza hatte ein Tuch über ihrem verstümmelten Gesicht ausgebreitet.
    In wessen Armen mochte sie wohl am letzten Morgen ihres Lebens aufgewacht sein? Die Frage blitzte unvermittelt in Diaz’ Kopf auf. Oder hatte sie die Nacht allein verbracht? Hatte sie vielleicht einen Joint zu ihrem Kaffee geraucht, in der Sonne gesessen und ihre Lieblingskatze gestreichelt und dabei ein Dutzend Mal denselben Abschnitt in ihrem Roman gelesen? Hatte sie am Nachmittag Freunde besucht und über einen müden kleinen Seitenhieb gelacht, der einem gemeinsamen Bekannten galt, der gerade nicht da war? Ihr letzter Tag musste auf eine so unspektakuläre Art verlaufen sein, denn es war einfach unvorstellbar, dass eine so junge Frau gewusst haben konnte, dass der Tod gleich hinter der nächsten Straßenecke auf sie gelauert
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