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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel
Autoren: Jonathan Woods
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wie eine Eierschale. Stinkbesoffen wie immer , dachte Diaz.
    Der Priester hob sein Glas und stürzte den Rum in einem Zug hinunter. In seinen Augen blitzte ein Funke von Wiedererkennen auf.
    »Wurde allmählich Zeit, dass du dich blicken lässt«, sagte er. »Heute Nacht geht das Böse um.«
    »Sollte mich das überraschen, Philippe?«
    »Die Unschuldigen werden abgeschlachtet.«
    »Und dein Gott sieht dem Geschehen tatenlos zu.«
    Die dichten Augenbrauen des Priesters zogen sich verunsichert zusammen. Er strich sich mit zwei Fingern über das Kinn, das die Schnittspuren seiner letzten Rasur zeigte. »Es ist an uns, das Böse zu überwinden. Um so den Weg zu Gott zu finden. Das haben uns die Padres gelehrt, Hector. Das kannst du doch nicht vergessen haben.«
    Der Priester schlug laut mit dem Schnapsglas auf die Tischplatte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Oder um einen neuen Drink zu bestellen. Diaz war sich nicht sicher, was der andere damit bezweckte. Vielleicht beides.
    »Ich habe ihren Vorträgen nie Glauben geschenkt«, sagte er. »So weit ich das sehe, sind wir dabei, den Krieg zu verlieren. Falls wir ihn nicht schon längst verloren haben.«
    »Nein, mein Freund.« Der Priester lächelte. »Nicht, solange Leute wie du für uns kämpfen.«
    »Ich bin hundemüde«, murmelte Diaz. »Und ich habe Angst davor, wieder einzuschlafen.«
    »Dann bleib hier sitzen und trink einen. Oder auch drei.« Der Priester vollführte eine segnende Geste, das leere Schnapsglas noch immer in der Hand.
    In diesem Moment erschien Tia, die Besitzerin der bodega . Sie brachte zwei Geschenke in Form eines weiteren Glases Rum und eines Mezcals mit, eine freundliche Frau in den Fünfzigern mit ausladenden Hüften. Tia hatte das Grauen gesehen und überlebt. Es gab nichts mehr, das sie hätte erschüttern können.
    »Inspector Diaz, welche Freude, Sie heute Nacht zu sehen.« Bevor er irgendwie reagieren konnte, hatte sie ihn auch schon aus seinem Stuhl gerissen, ihn liebevoll umschlungen und mit der Nase tief in ihren üppigen, stark parfümierten Busen gedrückt. Diaz wehrte sich nicht. Der überwältigende Duft ihres Körpers ließ ihn mit der Wucht einer hereinbrechenden Naturgewalt schlagartig steif werden. Gleich darauf ließ Tia ihn wieder los und wandte sich dem Priester zu. »Und jetzt zu Ihnen, Philippe. Kein weiteres Rumschlagen mit den Gläsern auf den Tisch, keine anzüglichen Tiraden oder irgendeinen anderen Unfug dieser Art. Oder Sie finden sich auf der kalten Straße wieder.«
    Sie beugte sich zu ihm hinab und knabberte ihm spielerisch am Ohr. Der Priester zog sie in seinen Schoß, wo sie sich einen Moment lang kokett wand, bevor sie sich aus seinem Griff löste und verschwand, um sich um die anderen Gäste zu kümmern. Diaz trank einen Schluck von seinem Mezcal, während er den übertriebenen Hüftschwung, den Tia an den Tag legte, mit den Blicken verfolgte.
    »Was für eine liebe, warmherzige Fotze«, lamentierte der Priester. »Hätte ich meine cojones nicht bereits dem Heiligen Geist geweiht …«
    »Ein perfektes Beispiel dafür, wie beschissen das Leben in unserem guten alten Mexiko ist«, sagte Diaz. Er zündete sich eine Zigarette an. »Du hast dich ganz tief in irgendeinem Puff des Geistes verkrochen, wo du es mit dem Heiligen Geist treibst, während sich die Schwachen und Getretenen bis an die Zähne bewaffnen, um ihr Drogenrevier zu verteidigen. Und mir bleibt es überlassen, Recht und Gesetz für die Reichen und Berühmten aufrechtzuerhalten, die meistens viel zu beschäftigt damit sind, sich Unmengen von Koks reinzuziehen, als dass sie bemerken würden, wie der Himmel über ihnen einstürzt. Manchmal wünschte ich mir, Mexikos alte Götter würden zurückkehren, um hier gründlich aufzuräumen. Sie mögen zwar ein blutrünstiger Haufen gewesen sein, aber wenigstens haben sie den Laden in Ordnung gehalten.«
    Die Augen des Priesters wurden plötzlich lebendig. »Vorsicht, Hector! Du hast ja keine Ahnung, was du dir da wünschst. Was das alte Mexiko damals beherrscht hat, war das reine Böse.«
    Diaz lachte. »Auch nichts Böseres als das, was heute da draußen durch die Nacht schleicht. Waren das nicht deine eigenen Worte, als ich mich zu dir gesetzt habe?«
    Er trank seinen Drink in einem Zug aus und erhob sich. Das Brennen des Mezcals in seiner Kehle rief Erinnerungen an die Menthol-Brustsalbe in ihm wach, mit der seine Mutter ihn bei jeder Erkältung malträtiert hatte.
    Während er an der Bar eine
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