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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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versiegte so rasch, wie er begonnen hatte, und wieder erhob Ralph die Stimme.
»Ich bin … «
    Diesmal machte
Gwenda seinen Worten ein Ende. Sie sprang vor und stieß ihm den Dolch in den
Mund. Er gab einen entsetzlichen, erstickten Laut von sich. Die Klinge hatte
seinen Nacken durchbohrt.
    Gwenda ließ das
Messer los und trat zurück.
    Fassungslos starrte
sie ihr Werk an. Der Mann, der sie so lange gequält hatte, war an die Wand
genagelt, als wäre er gekreuzigt, ein Schwert in der Brust, ein Messer im Mund.
Er machte keinen Laut mehr, doch seine Augen zeigten, dass er noch lebte; sie
zuckten von Gwenda zu Sam und wieder zurück, erfüllt von Todesschmerz, Angst
und Verzweiflung.
    Sie standen starr
vor ihm, beobachteten ihn schweigend und wartend.
    Endlich schloss
Ralph die Augen.
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KAPITEL 91
    Im September ließ
die Seuche nach. Caris' Hospital leerte sich allmählich, als die Kranken
starben, ohne dass ihnen neue Opfer nachrückten. Die leeren Zimmer wurden
gefegt und sauber geschrubbt, und in den Kaminen brannte Wacholderholz und
erfüllte das ganze Hospital mit einem scharfen Herbstduft. Anfang Oktober wurde
das letzte Opfer auf dem Friedhof des Hospitals bestattet.
    Eine dunstigrote
Sonne stieg über der Kathedrale von Kingsbridge auf, während vier kräftige
junge Nonnen den verhüllten Leichnam in die Grube senkten. Der Tote war ein
buckliger Weber aus Outhenby, doch als Caris in das Grab blickte, sah sie ihren
alten Feind, die Pest, in der kalten Erde liegen. Unhörbar hauchte sie: »Bist
du wirklich tot, oder kommst du noch einmal wieder?«
    Als die Nonnen nach
der Beerdigung ins Hospital zurückkehrten, gab es nichts mehr zu tun.
    Caris wusch sich
das Gesicht, bürstete ihr Haar und zog das neue Kleid an, das sie sich für
diesen Tag aufgespart hatte. Es strahlte im hellen Rot des Kingsbridger
Scharlachs. Dann verließ sie zum ersten Mal seit einem halben Jahr das
Hospital. Sie ging sofort zu Merthins Garten.
    In der Morgensonne
warfen die Birnbäume lange Schatten. Die Blätter wurden allmählich rot und
trocken, aber an den Zweigen hingen noch einige späte Früchte, rundbauchig und
braun. Arn, der Gärtner, hackte Feuerholz mit einer Axt. Als er Caris
erblickte, erschrak er und sah sie ängstlich an; dann begriff er, was ihr
Erscheinen bedeutete, und ein strahlendes Lächeln breitete sich über sein
Gesicht aus. Er ließ das Beil fallen und lief ins Haus.
    In der Küche kochte
Em Haferbrei. Sie sah Caris an wie eine himmlische Erscheinung. So gerührt war
sie, dass sie Caris die Hände küsste.
    Caris stieg die
Treppe hinauf und ging in Merthins Zimmer.
    Er stand im
Untergewand am Fenster und sah auf den Fluss hinaus, der vor seinem Haus
entlangfloss. Er wandte sich ihr zu, und ihr stockte das Herz, als sie sein
vertrautes, unebenmäßiges Gesicht sah, den Ausdruck wachsamer Intelligenz in
seinen Zügen und den schlagfertigen Humor im Schwung seiner Lippen. Seine
goldbraunen Augen blickten sie liebend an, und sein Mund verbreiterte sich zu
einem Begrüßungslächeln. Er zeigte keine Überraschung: Er musste mitbekommen
haben, dass immer weniger Kranke ins Hospital kamen, und jeden Tag damit
gerechnet haben, dass sie zu ihm zurückkehrte. Er sah aus wie ein Mann, dessen
größte Hoffnung sich erfüllt hatte.
    Sie trat neben ihn
ans Fenster. Er legte den Arm um ihre Schultern, sie ihren um seine Taille. In
seinem Bart war ein wenig mehr Grau als noch vor sechs Monaten, und der
Heiligenschein aus rotem Haar schien noch etwas weiter zurückgewichen zu sein,
es sei denn, sie bildete es sich nur ein.
    Einen Augenblick
lang sahen sie beide aus dem Fenster. Im grauen Morgenlicht zeigte das Wasser
das Grau von Eisen. Die Oberfläche wandelte sich ständig, spiegelhell oder
tiefschwarz in ungleichmäßigen Mustern, die immerfort wechselten und doch stets
gleich blieben.
    »Es ist vorüber«,
sagte Caris.
    Sie küssten
einander.
     
    Merthin rief einen
außerordentlichen Herbstmarkt aus, um die Öffnung der Stadttore zu feiern.
Abgehalten wurde er in der letzten Oktoberwoche. Die Saison des Wollhandels war
zwar vorbei, doch Vlies war ohnedies nicht mehr die wichtigste Ware, die in
Kingsbridge umgeschlagen wurde, und Tausende kamen, um das scharlachrote Tuch
zu kaufen, für das die Stadt inzwischen berühmt war.
    Auf dem Bankett am
Samstagabend, mit dem der Markt eröffnet wurde, ehrte der Rat Caris. Obschon
Kingsbridge nicht völlig von der Pest
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