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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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verschont geblieben war, hatte es weniger
gelitten als andere Städte, und die meisten Einwohner waren der Ansicht, sie
verdankten Caris' Vorkehrungen ihr Leben. Sie war jedermanns Heldin. Die Räte
bestanden darauf, ihre Verdienste öffentlich herauszustellen, und Madge Webber
ersann eine neue Zeremonie, in der Caris ein goldener Schlüssel überreicht
wurde, der den Schlüssel zum Stadttor symbolisierte. Merthin war sehr stolz auf
seine Frau.
    Am nächsten Tag,
dem Sonntag, suchten Merthin und Caris die Kathedrale auf. Die Mönche waren
noch in St.-John-in-the-Forest, und deshalb las Vater Michael aus der
Gemeindekirche St. Peter die Messe. Auch Lady Philippa, Gräfin von Shiring, war
zugegen.
    Seit Ralphs
Beerdigung hatte Merthin sie nicht mehr gesehen. Philippa hatte für seinen
Bruder, ihren Gemahl, nicht sonderlich viele Tränen vergossen. Normalerweise
wäre die Totenmesse für den Grafen in der Kathedrale zu Kingsbridge abgehalten
worden, doch weil die Stadt gesperrt gewesen war, hatte man Ralph in Shiring
bestattet.
    Sein Tod blieb
rätselhaft. Ralph war in einer Jagdhütte aufgefunden worden. Ein Stich durch
die Brust hatte ihn getötet. In seiner Nähe lag Alan Fernhill am Boden,
ebenfalls an Stichwunden gestorben. Die beiden Männer schienen gemeinsam zu
Mittag gegessen zu haben, denn die Reste der Mahlzeit standen noch auf dem
Tisch. Offensichtlich war es danach zu einem Kampf gekommen, doch es war nicht
klar, ob Ralph und Alan sich die tödlichen Wunden gegenseitig zugefügt hatten
oder ob noch jemand anders darin verwickelt gewesen war. Gestohlen worden war
nichts: Bei beiden Toten wurde Geld gefunden, ihre kostbaren Waffen lagen neben
ihnen, und auf der Lichtung grasten zwei wertvolle Pferde. Deshalb hatte der
Leichenbeschauer aus Shiring der Ansicht zugeneigt, die beiden Männer hätten
sich gegenseitig getötet.
    In anderer Hinsicht
war es kein Rätsel. Ralph hatte ein Leben der Gewalt geführt, und daher
überraschte es niemanden, dass er einem gewaltsamen Tod zum Opfer gefallen war.
Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen, spricht der Herr;
unter der Herrschaft König Edwards III. zitierten die Priester diesen Vers
allerdings nur selten. Wenn überhaupt etwas bemerkenswert war, so der Umstand,
dass Ralph so viele Feldzüge überlebt hatte, so viele blutige Schlachten und so
viele Sturmangriffe der französischen Ritter, nur um dann bei einer
Handgreiflichkeit wenige Meilen von seinem Zuhause entfernt zu sterben.
    Merthin war
überrascht gewesen, als ihm während der Beisetzung die Tränen kamen. Er fragte
sich, worum er trauerte. Sein Bruder war ein schlechter Mensch gewesen, der
viel Leid verursacht hatte, und sein Tod war ein Segen. Seit dem Mord an Tilly
hatte sich Merthin ihm nicht mehr verbunden gefühlt. Was gab es da zu betrauern?
Schließlich sagte sich Merthin, er trauere um das, was Ralph hätte sein können — ein Mann, der sich der Gewalt nicht ergab, sondern sie beherrschte; dessen
Hitzigkeit nicht von dem Streben nach persönlichem Ruhm, sondern seinem
Gerechtigkeitssinn gelenkt wurde. Vielleicht war es einmal möglich gewesen,
dass Ralph zu solch einem Mann heran wachsen würde. Als sie beide fünf und
sechs Jahre alt waren und zusammen spielten, hölzerne Boote in einer
Schlammpfütze fahren ließen, da war Ralph weder grausam noch rachsüchtig
gewesen. Und um diesen kleinen Ralph hatte Merthin geweint.
    Philippas beide
Jungen waren auf der Beerdigung gewesen, und sie begleiteten sie auch heute.
Der ältere, Gerald, war Ralphs Sohn mit der armen Tilly. Von dem jüngeren,
Roland, glaubte jeder, er wäre Ralphs Sohn mit Philippa, doch Merthin und
Philippa wussten es besser. Zum Glück war Roley kein kleiner, lebhafter
Rotschopf wie Merthin. Er würde so groß und würdevoll werden wie seine Mutter.
    Roley hielt eine
Holzschnitzerei in der Hand und reichte sie Merthin mit ernstem Gesicht. Sie
stellte ein Pferd dar und war für einen Zehnjährigen bemerkenswert gut
ausgeführt. Die meisten Kinder hätten das Tier fest auf allen vier Beinen
stehend geschnitzt, doch Roley hatte ihm Bewegung verliehen; die Beine waren in
unterschiedlichen Haltungen, und die Mähne flog im Wind. Der Junge hatte die
Fähigkeit seines leiblichen Vaters geerbt, sich komplizierte Gegenstände
räumlich vorzustellen. Merthin stieg unerwartet ein Kloß in die Kehle. Er
beugte sich vor und küsste Roley auf die Stirn.
    Philippa warf er
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