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Die Toechter der Familie Faraday

Die Toechter der Familie Faraday

Titel: Die Toechter der Familie Faraday
Autoren: Monica McInerney
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Sie war anders und kannte New York viel besser. Wenn auch nur wenige Ecken: ihr Viertel, Greenwich Village, Dollys Gegend und den Central Park. Aber was sie dort erlebt hatte, hatte sonst niemand von den acht Millionen Menschen in dieser Stadt erlebt. Vielleicht waren ihr Dinge aufgefallen, die niemand sonst bemerkt hatte. Wenn sie gleich wieder abreisen würde, würde sich die Stadt dadurch nicht ändern, aber Maggie hätte bleibende Erinnerungen an New York.
    Der Portier begrüßte sie, als wäre sie Jahre fort gewesen. Er erkundigte sich nach Leo und freute sich sehr über die Schachtel mit kleeblattförmiger Schokolade, die Maggie ihm mitgebracht hatte.
    Im sechsten Stock hatte sich nichts verändert. Im Flur roch es immer noch nach Frittiertem. Bei ihrem unsichtbaren Nachbarn lief der Fernseher. Das Apartment sah wie vor ihrer Abreise aus.
    Maggie packte aus und duschte. Sie wollte noch nicht schlafen. Sie setzte sich auf den Balkon, atmete die feuchte Luft ein und lauschte den Klängen des Spätsommers. Sie schaute auf den kleinen Park, dessen Bäume im Schein der Laternen die ersten Spuren von herbstlichem Gelb und Orange zeigten. Sie sollte sie zählen, vielleicht würde das helfen. Sie brauchte weniger als eine Minute: fünfundvierzig Bäume. Sie zählte sie noch einmal.
    Sie zählte gerade zum dritten Mal, als der Türsummer ertönte. Maggie fuhr zusammen. Es war Ray.
    »Hi, Maggie. Der Engel ohne Flügel ist wieder da.« Sie hörte, wie Ray mit jemandem sprach, dann lautes Gelächter. »War nur ein kleiner Scherz. Ich meine natürlich Gabriel.«
    » Gabriel? Gabriel ist bei Ihnen?«
    »Ich hab ihm gesagt, dass sie gerade erst zurückgekommen sind. Soll ich ihn bitten, später wiederzukommen?«
    »Nein, nein, ich komme.«
    Es musste am Jetlag liegen, dass ihre Hände zitterten, als sie schnell in ihr Lieblingskleid schlüpfte, oder an der schwülen Luft, dass ihre Wangen gerötet waren, als sie prüfend in den Spiegel sah. Der Aufzug schien eine Stunde bis unten zu brauchen. Sie zählte laut die Stockwerke: sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Es beruhigte sie, zumindest ein wenig. Fast wäre sie gleich wieder nach oben gefahren, damit sie noch einmal zählen konnte.
    Er wartete an der gleichen Stelle wie an ihrem allerersten Abend. Er lächelte. Sie wollte ihn auch anlächeln. Sie wollte zu ihm gehen und ihm um den Hals fallen. Doch sie machte bewusst eine ernste Miene und dachte an Mirandas Rat. Zeig etwas Stolz.
    »Gabriel.« Sie sprach mit Grabesstimme.
    »Willkommen zu Hause, Maggie.«
    Sie setzte sich zu ihm ans Fenster. So weit, so gut. Sie war gefasst, gleichmütig und gesammelt. Alles mit g . Dolly wäre stolz auf sie.
    »Woher weißt du, dass ich hier bin? Ich bin doch eben erst angekommen.«
    »Ich habe die Fenster am Rockefeller Center geputzt und dabei gesehen, wie deine Maschine gelandet ist.« Er lächelte. »Ich hab Leo angerufen. Es tut mir leid, dass ich dich nicht am Flughafen abholen konnte. Ich musste in letzter Minute einen Hundeausführ-Job erledigen. Ich bin doch nicht zu früh, oder? Ich habe dir ein paar Stunden für die Passkontrolle, die Taxischlange und den Stau gegeben, um deinen Schlüssel zu finden, ins Haus zu gehen und deine Taschen abzustellen, und dann habe ich dir für alle Fälle noch einmal fünf Minuten gegeben. Soll ich trotzdem lieber noch ein paarmal um den Block gehen?«
    Maggie war verwirrt. Warum benahm er sich so normal? Sie dachte wieder an Miranda. Ihre Tante würde sie drängen, gleich zur Sache zu kommen. »Gabriel, warum bist du hier?«
    »Um dich zu sehen.«
    »Aber warum?«
    Jetzt war er verwirrt. »Warum wohl?«
    »Ich dachte, du wärst bei Susanna.«
    »Susanna? Ach ja, Susanna.« Er lächelte. »Du hättest den Streit nach meiner Rückkehr aus Irland erleben sollen, Maggie. Sie war außer sich vor Wut. Hat all meine Sachen auf die Straße geworfen. Meine CDs zerschmettert. Meine Gitarre zertrümmert.«
    »Wirklich?« Er fand das wohl auch noch lustig. »Aber ihr habt euch doch wieder vertragen, oder?«
    »Oh, sicher doch. Das ist wirklich großartig bei ihr. Sie ist hochgradig erregbar, aber im nächsten Moment ist der Ärger schon wieder verraucht. Das ist das feurige südamerikanische Blut in ihr. Oder war es spanisches? Na ja, egal.«
    Südamerikanerin oder Spanierin. Dann war sie nicht nur temperamentvoll, sondern auch noch schön.
    »Ich wünschte nur, sie hätte einen Tag später als vereinbart angerufen«, sagte Gabriel. »Sie hat das mit dem
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