Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs
Autoren: Barbara Erskine
Vom Netzwerk:
Herzenslust malen und nachdenken!«
    Als Jess den Hörer auflegte, blieb sie kurz sitzen und starrte zum Fenster. War es richtig, nach Wales zu fahren? Immerhin ließ sie zu, dass jemand sie von der Schule vertrieb, an der sie so gern arbeitete, aus der Wohnung, an der sie hing, aus der Stadt, die sie zu lieben gelernt hatte, und gestattete diesem Jemand zu glauben, er würde ungeschoren davonkommen. Bislang war er ungeschoren davongekommen. Die Polizei würde nicht ermitteln. Er musste mit keinerlei Konsequenzen rechnen.
    Die Sonne fiel durchs Fenster auf ihren blassgrünen gemusterten Teppich und hob noch die kleinsten Details im Muster hervor. Sie studierte den Effekt gerade, als sie hörte, wie die Haustür zuschlug und jemand die Treppe heraufkam. Sie hielt die Luft an. Langsam kamen die Schritte näher, sie waren regelmäßig, schwer, männlich. Jess schluckte, Schweiß bildete sich zwischen ihren Schulterblättern. Hatte sie die Wohnungstür abgeschlossen? Bestimmt. Unfähig, sich zu rühren, hielt sie die Augen auf den Türknauf gerichtet, hörte die Schritte durch ihre Wohnung hallen. Sie hatten den Treppenabsatz vor ihrer Tür erreicht und hielten inne. Einen Moment herrschte absolute Stille, dann ging der Mensch weiter in den nächsten Stock. Erst da wurde Jess bewusst, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte und von Kopf bis Fuß zitterte. Sie lief zur Wohnungstür und überprüfte die Sicherheitskette. Sie war eingehängt, der Riegel war vorgeschoben, das Sicherheitsschloss eingerastet.
Und da schlug ihre Angst abermals in Wut um. Das hatte er ihr angetan! Niemand, absolut niemand hatte das Recht, sie derart zu terrorisieren, ihr das Gefühl zu geben, verletzlich und bedroht zu sein, und das in ihrem eigenen Zuhause! Das war ungeheuerlich. Sie hasste den Mann, der ihr das angetan hatte, und sie hasste sich selbst dafür, dass sie zum Opfer geworden war. Sie wollte kein Opfer sein. Irgendwie musste sie ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen.
    Draußen ging es besser. Auf der lauten Straße unter vielen Menschen, in vollen Geschäften und an einem Cafétisch auf dem Bürgersteig mit einem Glas Latte macchiato vor sich fühlte sie sich sicher. Da konnte sie den Tauben zusehen, die furchtlos zwischen den Füßen der Passanten herumpickten und geschickt Kinderwagen und Fahrrädern auswichen. Über dem Pub auf der anderen Straßenseite hingen nach all den Monaten noch die weihnachtlichen Wimpel und Banner, vom Wind arg zerrupft. Zwei Essen zum Preis von einem. Heute Abend Fußball live.
    Keine drei Meter vor ihr drängte sich eine Menschenmenge um die Ampel, nur ein Geländer bewahrte sie davor, in den Straßenverkehr geschoben zu werden. Die Ampel schaltete auf Grün um, die Menschen strömten auf die andere Seite, hinter ihnen sammelte sich die nächste Schar. Über Jess’ Kopf flatterte in den belaubten Ästen ein zerfetzter silberner Ballon wie ein toter Vogel. Am Ende der Straße wirbelte der Verkehr wie bei einem endlosen Tanz in den kleinen Kreisverkehr. Jess trank ihren Kaffee. Der Lärm war unaufhörlich, ohrenbetäubend. Motoren, Musik, das Gurren der Tauben auf den Fenstersimsen hoch über ihrem Kopf, das Reden und Lachen, das Schreien und Fluchen der Menschen, das Warngeräusch eines Lasters, der im Rückwärtsgang fuhr, alle paar Sekunden läuteten Handys, ihre
unerbittlichen Klingeltöne bildeten eine vielstimmige Kakophonie vor stetig ansteigenden Stimmen.
    Hier hatte sie sich immer sicher gefühlt, hatte sich heimisch gefühlt. Plötzlich konnte sie das alles nicht mehr ertragen. Sie sehnte sich nach Stille.
     
    Methodisch begann sie zu packen, ging alle Unterlagen durch, verabschiedete sich von Kollegen und Freunden. Nur für den Sommer, erklärte sie. Ich möchte eine Weile allein sein, die Gelegenheit nutzen, ein bisschen zu malen. Sie sagte nicht, wohin sie fahren wollte. Es klang geheimnisvoll, vergnüglich, ungestört. Nicht für immer. Sie liebte die Wohnung, sie wollte sie nicht verkaufen. Sie brauchte nur Platz. Und einen Ort, an dem sie sich sicher fühlte. An dem er sie nicht finden konnte.
    Als das Telefon in dem Moment klingelte, als sie zur Wohnungstür hereinkam, hob sie nichtsahnend ab, ging davon aus, dass es Jane sein würde, die Schulsekretärin, die ihr noch mehr bürokratischen Kram ankündigte, den sie erledigen musste. »Hallo?« Sie manövrierte gleichzeitig mit Hörer, Handtasche und Einkäufen, versuchte, ihre Sachen auf dem Tisch abzustellen, während die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher