Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
Vom Netzwerk:
seines Hutes verdeckte sein Gesicht. Vater baute sich vor den Menschen auf und wartete, bis wir die Stufen heruntergekommen waren. Er half uns weder, noch begrüßte er uns, sondern blieb geduldig stehen, anscheinend überzeugt, dass wir den Weg auch allein bewältigen konnten. Als wir endlich die letzte Stufe hinunterstiegen, drehte er sich um. Sofort teilte sich die raunende Menge wie schaumgekrönte Wellen vor dem Bug eines Schiffs, um uns Platz zu machen, und in diesem Moment wurde mir schlagartig klar, warum er mich nicht trug und aus welchem Grund er mir auch früher nicht zu Hilfe gekommen war, wenn ich um meinen Platz in der Welt kämpfte. Es lag nicht etwa daran, dass er mich nicht liebte. Genau das Gegenteil war der Fall. Während unserer Haft hatte er uns Lebensmittel, Kleidung und tröstende Worte gebracht und uns nicht im Stich gelassen. Aber er wollte mich nicht verzärteln, damit ich an der Grausamkeit und den Fehlurteilen dieser Welt nicht zerbrach. Durch eine blutende Wunde lernt ein kleines Kind am schnellsten, in Zukunft vorsichtiger zu sein.
    Also machte ich einen Schritt. Und dann noch einen. Und schließlich folgten wir Vater, der gekommen war, um uns für immer aus Salem fortzubringen. Immer wenn ich einen Fuß vor den anderen setzte, dachte ich daran, wie mutig Mutter sich ihren Richtern gestellt hatte. Ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben hatte sie an der Wahrheit festgehalten. Ich erinnerte mich an ihren Stolz, ihre Kraft und an ihre Liebe.
    »Ich bin die Tochter meiner Mutter, ich bin die Tochter meiner Mutter«, sagte ich mir wieder und wieder. Kurz nach unserer Rückkehr zeigte Vater uns die Stelle, wo er Mutter beerdigt hatte. Ihr Grab befand sich südlich von Ladle Meadow auf Gibbet Plain, wo sie als Kind so oft mit ihrer Schwester gespielt hatte. Dort, wo unter einer einsamen Ulme das rote Buch vergraben lag, war sie mit mir auch im letzten Frühjahr gewesen. Sicher hatte mein Vater von dem Buch nichts geahnt und wusste nur, dass Mutter hier alle ihre Sorgen hatte vergessen können. Wir legten Rosmarinzweige auf den Steinkreis, mit dem er das Grab markiert hatte. Es war ein ruhiger Morgen. Ein leichtes Lüftchen wehte, und die Blätter rieselten von den Bäumen. Sie hatten ihren Zweck erfüllt und würden nun nur noch dazu dienen, den Boden vor dem einsetzenden Frost zu schützen. Kein Vogelruf war zu hören. Keine Schwärme von Tauben oder Wildgänsen flogen über uns hinweg, denn sie waren schon längst nach Süden gezogen. Ich kniete mich auf den Boden, hielt das Ohr an den Steinkreis und lauschte dem Knacken der Steine. Dabei erinnerte ich mich daran, dass ich mich vor langer Zeit gefragt hatte, welches Lied die Knochen meiner Mutter wohl singen würden. Früher hatte ich gedacht, die Melodie würde dem Rauschen von Wellen ähneln, denn ich wusste, dass selbst die zerbrechlichste Muschel das Tosen des Meeres in sich trägt. Doch ich hörte nur ein leises Rascheln und ein seltsames Pfeifen, das Geräusch eines Veilchens, das am Winteranfang aus dem gefrorenen Boden wächst.

10
    Oktober 1692 - Mai 1735
    W ir blieben noch einige Zeit in Andover und bestellten unser Land. Vater war immer für uns da. Obwohl er so wortkarg war wie eh und je, ging er liebevoll mit uns um, versorgte jede Wunde, schlichtete jeden Streit und tröstete bei jedem Albtraum, bis wir wieder genesen waren. Unsere Nachbarn belästigten uns nicht, und dass die Menschen immer noch Argwohn und Furcht gegen uns hegten, erwies sich gewissermaßen als Vorteil. Niemand wagte, uns beim Tauschhandel zu übervorteilen, und in der ersten Zeit nach unserer Entlassung fanden wir sogar hin und wieder Lebensmittel oder Kleidungsstücke auf unserer Schwelle vor. Da diese Geschenke stets mitten in der Nacht gebracht wurden, erfuhren wir nie, von wem sie stammten, denn der Kettenhund war inzwischen gestorben, weshalb uns niemand vor nächtlichen Besuchern warnte.
    Eines Tages stattete Dr. Ames aus Haverhill uns einen Besuch ab. Vater bedankte sich zwar herzlich bei ihm, doch ich glaube, dass der gute Doktor von der Kürze des Gesprächs enttäuscht war. Es kam weder zu einem philosophischen Gedankenaustausch noch zu einer angeregten Debatte über den Kampf für die Gerechtigkeit, und die Unterhaltung beschränkte sich auf Belanglosigkeiten wie das wechselhafte Wetter und den Gesundheitszustand unseres Viehs. Nachdem lange Schweigen geherrscht hatte, verabschiedete sich Vater von seinem Gast, ließ ihn bei uns auf dem Hof zurück
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher