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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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Ansicht nach ein Zeichen dafür, dass die Menschen ihre Einstellung zu den Prozessen in Salem geändert hatten. Am frühen Morgen des 6. Oktober öffnete der Sheriff die Tür, um den Schmied einzulassen. Wartend stand er auf dem Flur, während uns die Ketten abgenommen wurden, und gab uns dann die Zeit, um uns zu verabschieden und uns einigermaßen vorzeigbar herzurichten. Ich wurde mit meinen drei Brüdern und vierzehn anderen Kindern entlassen. Die beiden Töchter von Abigail Dane Faulkner kamen ebenso auf freien Fuß wie Moses Tylers Nichten. Mary Lacey, die Freundin von Mercy Williams, die als eine der ersten Vorwürfe gegen meine Mutter erhoben hatte, war von der Haft so geschwächt, dass sie aus der Zelle getragen werden musste. Mercy Wardwell, deren Vater Samuel am 22. September gehängt worden war, war erst vor drei Tagen neunzehn Jahre alt geworden und galt deshalb nicht mehr als Kind. Sie schlug die Hände vors Gesicht und verabschiedete sich nicht von uns, als wir hinausgingen, begleitet von einem kalten Herbstwind, der von der hohen westlichen Mauer hinüberwehte. Wir ließen Schwestern, Mütter und Großmütter zurück, die keine Aussicht, ja, nicht einmal Hoffnung auf Freiheit hatten.
    Lydia Dustin umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und segnete mich. »Das hier war nur ein dunkler Traum. Nun kannst du aufwachen und bei den Lebenden bleiben«, sagte sie zu mir. Sie und ihre Enkelin sollten den ganzen nächsten Winter in Ketten verbringen, denn obwohl das Gericht sie am 1. Februar freisprach, wurden sie zurück ins Gefängnis gebracht, weil sie die Haftgebühren nicht bezahlen konnten. Am 2. März wurde Elizabeth Colson freigelassen und durfte nach Reading zurückkehren. Lydia Dustin starb am 10. März 1693. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die noch in der »guten« Zelle des Gefängnisses in Salem zurückblieben.
    Ich jubelte über die Freiheit, bis wir erfuhren, dass diese nur für die Kinder aus Andover galt, während die aus Salem, Beverly und Billerica bleiben mussten. Margaret wurde zu ihrer Mutter zurückgeschickt, und als Richard mich aus der Zelle trug, steckte sie den Arm nach mir aus. Ihre Finger umfassten die kleine Tonscherbe, die ich ihr geschenkt hatte, und sie hielt sie mir hin wie einen Talisman. Wahrscheinlich wollte sie mir damit versprechen, dass die Verbindung zwischen uns nicht abreißen und auch dunkle und bedrohliche Zeit überstehen würde. Während ich die Treppe hinaufgetragen wurde, hörte ich, blechern und gedämpft, ihre Stimme, als riefe sie vom Grunde eines mit Metall ausgekleideten Brunnens nach mir. »Sarah, Sarah, Sarah …« Der Klang hallte mir noch in den Ohren, als die Tür zur Treppe längst wieder verriegelt war. Im Oktober 1692 war das Herbstlaub so golden, so rot und so grellbunt, dass die Farben in meine nach der langen Haft fast blinden Augen stachen wie eine glühende Eisenstange. Blinzelnd und weinend standen wir an der Tür und wussten nicht, ob wir weitergehen oder umkehren sollten. Anfangs waren wir zu schwach auf den Beinen, um die wenigen Stufen hinaus in den Gefängnishof ohne fremde Hilfe zu überwinden. Meine Brüder und ich erschienen als Letzte auf der Schwelle und konnten nach einer Weile im hellen Licht Gestalten ausmachen, die reglos auf dem Hof verharrten. Eine schweigende Menge hatte sich rings um die Stufen versammelt, und bis auf die verzweifelten Rufe von Familienangehörigen, die sich bei ihren vor uns stehenden Kindern bemerkbar machen wollten, war es totenstill. Ein Kind nach dem anderen wurde in Empfang genommen und weggeführt, bis nur noch wir vier, zitternd im auffrischenden Wind, warteten. Richard und Tom stützten mich zwischen sich. Es war Andrew, der, den verletzten Arm noch immer an die Brust gedrückt, als Erster die Stufen hinunterging. Inzwischen drängten sich die Menschen dichter um uns, sodass ich ihre Mienen deutlicher erkennen konnte. Ich las Mitgefühl und vielleicht ein wenig Anteilnahme, aber der vorherrschende Ausdruck war Angst. Offenbar befürchteten die Leute, die Kinder einer wegen Hexerei erhängten Frau könnten womöglich doch die Saat des Teufels in sich tragen. Aber Andrew, der schlichte Andrew, der schon so viel mitgemacht hatte, schob die Leute sanft mit der Faust zurück. »Geht nach Hause, geht nach Hause«, sagte er.
    Nachdem er die Schaulustigen weit genug zurückgetrieben hatte, sahen wir Vater auf uns zukommen. Er überragte selbst den Größten der Anwesenden um Haupteslänge, und die Krempe
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