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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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Urenkel. Wie viele alte Männer, die dort geboren waren, verfiel er in den letzten Jahren immer öfter ins Walisische. Sein Haar war kaum ergraut, und er hielt sich noch immer aufrecht und war gut zu Fuß. Oft ging er, einen Sack Getreide auf dem Rücken, neun Kilometer weit zu unserem nächsten Nachbarn, der krank und verwitwet war. An seinem Todestag fühlte er sich unruhig und rieb sich die Handgelenke, als schmerzten sie. Allerdings klagte er nicht, verzog auch nicht missmutig das Gesicht, sondern meinte nur leise auf Walisisch zu mir: » Henaint ni thow ay heenan .« Das Alter kommt niemals allein.
    Nein, dachte ich. Der Tod folgt dem Alter wie ein liebestoller Bräutigam der Braut. Ich hielt seine riesige knorrige Hand in meiner und sagte mir, dass mein Vater im letzten Viertel seines Lebens mehr zustande gebracht hatte als viele andere in ihrem gesamten. Dann schloss er die Augen und schlief friedlich für immer ein. Zwei Fichtensärge mussten zerlegt und zu einem einzigen zusammengebaut werden, damit seine Leiche hineinpasste. Dennoch blieb uns wegen seiner breiten Schultern nichts anderes übrig, als ihn seitlich hineinzulegen. Bevor man den Sargdeckel schloss, sah es deshalb aus, als würde er für immer in den Boden horchen.
    Kurz nach der Beerdigung schlenderte ich ein gutes Stück durch unsere grünenden Felder und ließ mich schließlich am äußersten Rand auf einem unbehauenen Grenzstein nieder. Dann schlug ich das rote Buch auf und las die Worte meiner Mutter und das, was mein Vater ihr erzählt hatte. Alle meine Zweifel, die Fragen und die von anderen verbreiteten Gerüchte fielen auf einmal von mir ab und machten der Gewissheit Platz. Ich legte das Buch weg, weil ich es plötzlich als zu schwer für meine Hände empfand, und sah mich um, erstaunt, dass die Welt unter meinen Füßen sich nicht verändert hatte. Die Sonne war über den Himmel gewandert, während ich las, sodass der Vormittag nun dem Nachmittag gewichen war. Doch in den reglosen Bäumen flirrte noch immer grün der Frühling, die Luft war dunstig und kühlte ab, und der Weizen keimte auf den Feldern. Wie konnte es sein, dass meine Umgebung dieselbe zu sein schien, während mein Bild von den beiden Menschen, die für mich Mutter und Vater gewesen waren, sich gewandelt hatte? Nun begriff ich, warum meine Mutter mich hatte schwören lassen, mit dem Lesen des Buches so lange zu warten, bis ich von der Zeit auf die Probe gestellt und stark gemacht worden war.
    In meinen gut fünfzig Lebensjahren hatte ich Grausamkeit, Tod, schmerzliche Verluste, Verzweiflung und Rettung aus der Not erlebt. Doch auch diese Erfahrungen hatten mich nicht auf diesen gewaltigen Umsturz im Denken vorbereiten können, der da in zu Blutrot verschossener Tinte geschrieben stand. Ein Land und sein Volk könnten auch ohne die erdrückende und gierig zugreifende Hand eines Monarchen regiert werden, hieß es hier. Jedoch entspräche es der Natur des Menschen, diesen Herrscher durch einen anderen sogenannten Beschützer des Volkes zu ersetzen, der sich mithilfe von Unterdrückung, Krieg und Betrug erneut zum Tyrannen aufschwingen werde. Als ich durch die Baumkronen spähte, sah ich gewaltige Armeen - Sohn gegen Vater und Bruder gegen Bruder - in die Schlacht ziehen. Das Krächzen der Krähen verwandelte sich in meinen Ohren in das Weinen von Kindern, Frauen und alten Männern, die niedergemetzelt und zertrampelt wurden. In den schwankenden Schatten entdeckte ich Vertreter der Kirche, die gegen ihre Glaubensbrüder am Altar Ränke schmiedeten. Männer und Frauen hielten in den geschäftigen und verderbten Straßen Londons Hasspredigten vor immer größer werdenden Menschenmengen. Verrat! Betrug !, kam es mir da unwillkürlich über die Lippen, und die Wörter schlugen ein wie aus einer Flinte abgefeuerte Kugeln.
    Und während das wandernde Licht über die Grenzsteine glitt, sah ich schließlich, wie ein König aus dem Gefängnis zum Blutgerüst geführt wurde, um dort geköpft zu werden. Neben diesem König stand ein Mann, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, der mit sanfter Hand vorsichtig die Haarsträhnen auf dem gebeugten Nacken beiseite strich, damit sie die Klinge nicht ablenkten. Dann schwang der Mann die Axt mit dem langen Stiel geschickt durch die Luft und ließ sie herabsausen, sodass sich die Geschichte der Menschheit in der scharfen Klinge spiegelte - einer Klinge, die ein und für alle Mal die Vergangenheit von der Zukunft, die Dunkelheit vom Licht und
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