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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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staubtrocken. »Wen?«, fragte ich leise.
    Offenbar hatte sie mich nicht gehört, denn sie redete einfach weiter, während sie mein Haar geschickt zu Zöpfen flocht. »Wenn ich dein Haar so flechte, wird es nicht verfilzen, sodass wir es nach dem Fieber nicht kurz abschneiden müssen. Aber es sind Knoten darin, die sich wahrscheinlich nicht mehr entfernen lassen. So ist das eben mit Knoten, man bindet sie leichter, als man sie löst.«
    Ich packte sie an der Hand. »Margaret, wen hast du gestern gesehen?«, beharrte ich.
    »Wen wohl? Tante Martha natürlich. Sie kam in die Zelle, als ihr alle geschlafen habt, und war sehr traurig, weil du krank warst. Es würde sie schrecklich mitnehmen, falls du nicht gesund werden würdest. Ich habe sie gebeten zu bleiben, aber sie wollte nicht. Weißt du, was ich dir von ihr ausrichten soll?«
    Ich schüttelte den Kopf und starrte sie fassungslos an. Mir wurde flau im Magen. Margaret neigte den Kopf zur Seite. Ihr Blick wurde plötzlich klar und nachdenklich.
    »Sie sagte: ›Halte den Stein fest …‹«
    Ich schloss die Augen und dachte daran, wie meine Mutter am Tag unseres Besuchs auf Prestons Farm meine Hand berührt und meine Finger um den Stein geschlossen hatte. Woher mochte Margaret wohl davon wissen? Vielleicht hatte ich in meinem Fieberwahn ja davon gesprochen. Es konnte natürlich auch sein, dass sie ebenfalls den sechsten Sinn besaß. Womöglich war ihr verwirrter Verstand so in den Besitz einer Botschaft aus der Schattenwelt gekommen und hatte sie festgehalten wie ein Spinnennetz eine Motte. Inzwischen flocht Margaret weiter mein Haar und sang dabei ein Liedchen, das ich die Tante oft in der Küche hatte trällern hören. Auch meine eigene Mutter hatte es gesummt, wenn sie geistesabwesend war und sich allein wähnte. Wieder weinte ich, jedoch nicht unter dem Druck der Schuld, sondern weil diese endlich nachließ. Und von diesem Moment an begann ich zu genesen. An einem Tag Ende September öffnete der Sheriff die Zellentür. Ein hochgewachsener, stattlicher Mann, der einen wehenden Umgang und einen breitkrempigen Hut trug, kam herein und blieb mitten im Raum stehen, um uns zu betrachten. Beim Eintreten war ihm die Abscheu deutlich anzusehen. Er hob einen Zipfel seines Umhangs, um ihn sich wegen des Gestanks vor Mund und Nase zu halten. Offenbar kostete es ihn Mühe, nicht zurückzuweichen, denn er stemmte die Füße in den Boden, als befände er sich bei Sturm an Bord eines Schiffs auf hoher See. Die eindrucksvollen Gefühle, die sich auf seinem Gesicht zeigten, sollten mir mein Leben lang im Gedächtnis bleiben, denn sie schienen uns einen Spiegel vorzuhalten, damit wir erkannten, wie tief wir gesunken waren. Anstand, Sittsamkeit, Anmut und Würde waren uns genommen und durch Angst, Selbstvorwürfe und Krankheit ersetzt worden. Sein flächiges Gesicht bebte und zerfloss wie Wachs, das man zu nah an die Flamme hält. Anfangs verengten sich seine Augen in rechtmäßiger Empörung beim Anblick so vieler angeklagter Hexen. Dann jedoch füllten sie sich mit Tränen, die er hastig wegwischte, als würden sie ihm die Haut verbrühen. Der zunächst fest zusammengepresste Mund, dem sicher nie eine Belanglosigkeit entwich, öffnete sich, um scharf Luft zu holen. Im nächsten Moment presste er die Faust gegen die Lippen und murmelte immer wieder dieselben Worte vor sich hin: »Mein Gott, mein Gott, mein Gott …« Die Frauen flehten nicht, bettelten nicht um Gnade, gaben keinen Laut von sich und vergossen nicht einmal eine Träne, sondern saßen oder lagen einfach nur stumm da und überließen es ihren Körpern, die Botschaft zu vermitteln.
    Von diesem Tage an setzte sich Increase Mather, der angesehene Geistliche und Freund des Königs und des Gouverneurs, dafür ein, Zweifel an den Vorwürfen der Anklägerinnen zu schüren. Obwohl er nie ausdrücklich gegen die Richter oder seinen Sohn Cotton Mather Stellung bezog, untergruben seine Einwände die Macht des Gerichts. Am 19. Oktober plante er, ins Gefängnis zurückzukehren, um sich die Aussagen der Frauen anzuhören, die man gezwungen hatte, sich und andere falsch zu beschuldigen. Allerdings sollte ich dann nicht mehr in Salem sein, um ihn zu sehen.
    Am Samstag, dem 1. Oktober, erschien Dr. Ames in unserer Zelle und verkündete, die Kautionssumme sei aufgebracht, sodass viele der jüngsten Gefangenen bald entlassen werden würden. Man hatte in Andover, Boston und sogar im weit entfernten Gloucester Geld gesammelt, Dr. Ames’
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