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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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ganz dunkel war. Und dann fing er an zu reden. Er erzählte mir, ich sei nach ihm benannt, weil ich ihm am meisten ähnelte. Das wunderte mich sehr, Sarah, denn bis jetzt hatte ich immer gedacht, dass vor allem Richard nach ihm geraten sei. Er sagte, manche Menschen könnten von der Geburt bis zum Tode wie Insekten dahindämmern, ohne sich je den Kopf über den Grund ihres Daseins zu zerbrechen. Aber wir beide, er und ich, wir seien anders. Wir bräuchten mehr als ein paar Erdklumpen, damit wir einen Sinn darin sähen, morgens aufzustehen und abends schlafen zu gehen.
    Ich erklärte ihm, ich wolle lieber sterben, als meine Tage damit zu verbringen, zu pflügen und mir den Staub von den Schuhen zu wischen. Da antwortete er, wenn ich stürbe, würde ein Teil von ihm ebenfalls sterben. Er riet mir, mir etwas im Leben zu suchen, das größer sei als ich, und danach zu streben. Dadurch würde ich die Kraft finden, aufrecht zu gehen wie ein Mann. Vor langer Zeit sei er so verzweifelt gewesen und so tief gesunken, dass er am liebsten sein Leben weggeworfen hätte. Dann jedoch habe er Mutter gefunden, und sie habe seinem Leben wieder Sinn gegeben. Ich habe lange über seine Worte nachgedacht. Und weißt du, was ich ihm erwidert habe, Sarah?«
    Er drückte meine Hand so fest, dass es wehtat, und hielt inne, da ihm die Stimme versagte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte, und ich rechnete damit, dass er nun seiner Trauer wegen Mutters Tod Luft machen würde. Doch als er das Wort ergriff, sagte er: »Ich habe ihm erklärt, dass du es bist. Du gibst mir Kraft. Du darfst nicht sterben und mich an diesem dunklen Ort allein zurücklassen, Sarah.«
    Schläfrigkeit ergriff mich, und mir fielen die Augen zu. Obwohl ich Toms Stimme hörte und ihm gern antworten und versichern wollte, dass ich immer bei ihm bleiben würde, reichte mein Atem einfach nicht, um die Worte auszusprechen. Es erschien mir um so vieles einfacher, mich dem Gewicht auf meiner Brust zu ergeben, und ich musste an Giles Corey unter seiner Schicht aus Steinen denken. Wenn man immer ein bisschen weniger und weniger atmete, blieb das Herz irgendwann stehen. Ich umfasste Toms Finger und schlief ein.

    Manchmal lag ich in einem Feuer. Das Stroh glühte, und Flammen stiegen daraus empor. Die Feuersbrunst trieb Legionen von Ratten und Armeen von Läusen vor sich her, bevor sie über den Boden davonhuschte und wie eine Rauchwolke unter der Tür durchschlüpfte. Dann wieder war ich in einen kalten Eiskeller eingesperrt und verwandelte mich erst in einen Stein, dann in Knochen und gefrorene Asche. Währenddessen ertönte ständig ein Bellen und Schmatzen aus meinem Brustkorb, der sich gegen ein langsames Ertrinken wehrte. Als ich einmal die Augen aufschlug, saß Margaret neben mir. Das lange schwarze Haar fiel ihr offen über die Schultern. Ich schüttelte den Kopf und kniff fest die Augen zu, um die Geistererscheinung zu vertreiben. Doch als ich sie erneut öffnete, war Margaret immer noch da. Ich spürte eine Berührung am Arm. »Sie haben mir die Puppe weggenommen, Sarah. Die, die du mir geschenkt hast«, flüsterte sie.
    »Meine auch«, krächzte ich wie ein altes Weib. Ich sah mich nach Tom um, damit er mich wieder in die Wirklichkeit zurückholte, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken.
    Margaret beugte sich näher zu mir. »Du darfst Vater keine Vorwürfe machen«, sagte sie leise. »Er meint es gut und liebt uns alle. Er ist in letzter Zeit nur ein wenig wunderlich. Aber schau, was ich für dich gefunden habe.« Sie zog ein kurzes Fadenende aus ihrem Ärmel.
    »Sieh nur. Da ist ein Stückchen Band für dich. Ich habe von Vater gelernt, wie man das macht. Doch wenn es erst einmal da ist, kann ich es nicht mehr verschwinden lassen, wie Vater es getan hätte.« Sie lächelte reizend, und ihre Augen nahmen den abwesenden und träumerischen Ausdruck eines Menschen an, der bereit gewesen wäre, den Elfen über den Rand einer Klippe zu folgen. Dann legte sie sich neben mich, schlang mir die Arme um die Schultern und küsste mich. Ihre Lippen fühlten sich kalt und glatt an wie Flusskiesel, doch ihr Atem war warm. »Wir werden immer Schwestern sein«, sang sie. Ich schlief wieder ein und träumte, ich schwömme in einem dunklen, gewaltigen Meer.

    Tom und Margaret wichen keinen Moment von meiner Seite. Ich weiß nicht, was die Tante davon hielt, dass Margaret mich pflegte, denn sie wechselte nie wieder ein Wort mit mir, rief ihre Tochter allerdings auch nicht
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