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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin
Autoren: Kathleen Kent
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Pockenwelle aus dem alten England herüber und forderte viele Todesopfer. Wir blieben zwar diesmal verschont, doch im Dezember erlag Königin Mary, Herrscherin über England und alle Kolonien, der Krankheit.
    Anfang August 1695 wurde Margaret von den Indianern entführt. Eine kleine Gruppe berittener Wabanaki hatte sich, bekleidet mit langen Mänteln und Hüten, der Siedlung genähert, sodass man sie anfangs für Besucher aus dem Nachbardorf hielt. Die Tante und zehn oder zwölf andere Einwohner dieses Teils von Billerica wurden niedergemetzelt. Für meine Cousine stellte man einen Grabstein neben dem ihrer Mutter auf, denn man hatte zwar ihre Leiche nicht gefunden, ging aber davon aus, dass ihre Seele im Moment der Gefangennahme dem Körper entwichen war. Mir erzählte man, dass die Steine auf einem idyllischen Fleckchen Erde standen, doch ich sah sie nie mit eigenen Augen. Noch viele Jahre lang träumte ich von Margaret, und in allen diesen Träumen war sie am Leben.
    Im Jahr 1701 begann Vater, inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt, immer öfter für längere Zeit nach Colchester in Connecticut zu reisen. Manchmal nahm er Richard oder Tom mit, denn er plante, dort eine große Farm für seine Kinder und Enkel zu gründen. Nach einigen Jahren folgten Tom und sogar Andrew Richards Beispiel, heirateten ebenfalls und hatten insgesamt neunundzwanzig Kinder. Tom wurde Vater von fünf Töchtern, ehe sein erster Sohn geboren wurde, und er benannte eine von ihnen nach mir. Seine vierte Tochter hieß Martha. Er war der Einzige von uns, der eines seiner Kinder so taufte. Vermutlich konnten wir anderen die Vorstellung nicht ertragen, sie vielleicht noch einmal zu verlieren.
    Im Alter von dreiundzwanzig Jahren zog ich mit Vater, meinen Brüdern und deren Ehefrauen nach Connecticut. Ich hatte Mutters rotes Buch bei mir, das ich eines frühen Abends vor einigen Jahren ausgegraben hatte. Als ich die schmutzige Ölhaut entfernte, stellte ich fest, dass das Buch im Großen und Ganzen trocken und unversehrt geblieben war. Sofort schlug ich es auf und sah die schmale und elegante Handschrift meiner Mutter. Doch dann klappte ich es rasch wieder zu, denn ich war noch nicht willens und in der Lage, zu lesen, was darin stand.
    In Colchester bauten wir zwei Häuser. Kurz darauf lernte ich meinen Mann kennen und heiratete ihn im September 1707, sodass ich jetzt Sarah Carrier Chapman hieß. Da ich nun glaubte, eine erwachsene Frau zu sein und das Gewicht ihrer Worte ertragen zu können, schickte ich mich einige Monate nach der Hochzeit an, das Buch zu lesen. Aber als ich es auf dem Schoß hielt, spürte ich, wie ein warnendes Grauen in mir aufstieg, weshalb ich stundenlang reglos dasaß. Ich befürchtete, etwas zu lesen zu bekommen, das mein Vertrauensverhältnis zu meinem Vater oder das Andenken an meine Mutter zerstören könnte. Und da ich in anderen Umständen war, hörte ich auf den Rat der Hebamme, ein großer Schreck könnte dem Ungeborenen schaden. Also versteckte ich das Buch in Vaters alter Eichentruhe im Keller, und obwohl es in meinen Gedanken stets präsent war, gab es immer eine Geburt, einen Todesfall oder eine Trauerfeier, die verhinderten, dass ich es hervorholte.
    Im Jahr 1711 verabschiedete der oberste Gerichtshof der Massachusetts Bay Colonies ein Gesetz, nach dem den fälschlich Beschuldigten die bürgerlichen Ehrenrechte zurückerkannt werden mussten. Als Entschädigung für Mutters Hinrichtung erhielt Vater vom Gericht sieben englische Pfund zugesprochen, den Preis für ihre Verpflegung und ihre Ketten, also nur das, was er tatsächlich für sie aufgewendet hatte. Die Rückerkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bedeutete auch, dass der Schuldspruch gegen Mutter hiermit null und nichtig war. Allerdings wurden neun der verurteilten Frauen von der Krone nicht entschädigt. Ihre wertvollen Häuser und Ländereien waren beschlagnahmt worden und blieben verloren. Im Frühjahr 1712 kehrten wir nach Andover zurück, um unsere Entschädigungszahlung in Empfang zu nehmen und in zwei Wagen unsere restliche Habe aus dem dortigen Haus und der Scheune zu holen. Zum letzten Mal besuchten wir Mutters Grab auf der großen Wiese, wo die Steine schon vom Gras überwuchert waren, und pflanzten Rosmarin, damit es im Somer duftete und im Winter die Erinnerungen nicht verloschen.
    Mitte Mai 1735, das Wetter war mild, starb Vater im Alter von einhundertundneun Jahren. Er hinterließ fünf Kinder, neununddreißig Enkelkinder und achtunddreißig
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