Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
unter den tierischen Schreien von Kawasemi hervor.
    Der Kopf kommt zum Vorschein, das von Schleim überzogene Gesicht ...
    ... und dann der glitschige, klebrige, leblose Körper.
    «Oh, aber - oh», sagt die Zofe. «Oh. Oh. Oh ...»
    Kawasemis hohes Schluchzen geht in ein Stöhnen über und verstummt.
    Sie weiß es. Orito legt die Zange weg, hebt das leblose Kind an den Füßen hoch und gibt ihm einen Klaps. Sie macht sich keine Hoffnungen auf ein Wunder: Sie handelt aus reiner Disziplin, so wie sie es in der Ausbildung gelernt hat. Nach zehn kräftigen Klapsen gibt sie auf. Das Kind hat keinen Puls. Sie spürt keinen Atem aus Mund oder Nase an ihrer Wange. Es ist unnötig, das Offensichtliche auszusprechen. Sie bindet die Nabelschnur über dem Nabel ab, schneidet den knorpeligen Strang mit dem Messer durch, badet den leblosen Jungen in einem Waschkessel und legt ihn in die Krippe. Eine Krippe als Sarg , denkt sie, und eine Windel als Leichentuch.
    Kammerherr Tomine gibt draußen einem Diener Anweisungen. «Melde Seiner Exzellenz, dass sein Sohn tot geboren wurde. Dr. Maeno und seine Hebamme haben ihr Möglichstes getan, aber es stand nicht in ihrer Macht, die Bestimmung des Schicksals zu ändern.»
    Oritos Sorge gilt jetzt dem Kindbettfieber. Sie muss die Plazenta herausholen, das Perineum mit Yakumosō einreiben und die Blutung einer Analfissur stillen.
    Dr. Maeno zieht sich hinter den Vorhang zurück, um der Hebamme Platz zu machen.
    Eine Motte groß wie ein Vogel fliegt herein und verirrt sich auf Oritos Gesicht.
    Als sie das Insekt verscheucht, stößt sie die Geburtszange von der Kupferwanne.
    Die Zange fällt auf einen Wannendeckel. Das laute Scheppern erschrickt ein kleines Wesen, das irgendwie in diesen Raum gelangt ist: Es wimmert und winselt.
    Ein Hundewelpe?, denkt Orito verblüfft. Oder ein Kätzchen?
    Das geheimnisvolle Tier stößt ganz in der Nähe einen Schrei aus: unter dem Futon?
    «Jag es fort!», befiehlt der Haushalter der Zofe. «Na, wird’s bald!»
    Das Wesen fängt wieder an zu wimmern, und Orito begreift, dass das Geräusch aus der Krippe kommt.
    Unmöglich. Die Hebamme sträubt sich gegen die Hoffnung. Unmöglich ...
    Sie reißt das Leintuch weg, und der Mund des Säuglings öffnet sich.
    Er holt Luft, einmal, zweimal, dreimal, das knautschige Gesicht verzieht sich ...
    ... und der zitternde schinkenrosa neugeborene Despot brüllt das Leben an.

[Menü]
    II

    Kapitän Lacys Kajüte auf der Shenandoah , vor Anker im Hafen von Nagasaki

    Am Abend des 20. Juli 1799
     
    «Wie soll ein Mann», fragt Daniel Snitker, «bei den Demütigungen, die wir täglich von den schlitzäugigen Blutsaugern erdulden müssen, denn sonst zu seinem angemessenen Lohn kommen? ‹Der unbezahlte Diener›, sagen die Spanier, ‹hat ein Recht darauf, sich selber zu bedienen›, und in diesem Punkt, zum Teufel, haben die Spanier ausnahmsweise recht. Wer sagt uns denn, dass es in fünf Jahren überhaupt noch eine Kompanie gibt, die uns bezahlt? Amsterdam ist am Boden, unsere Werften liegen still, die Betriebe ruhen, die Kornspeicher sind geplündert. Den Haag ist eine Bühne mit tanzenden Marionetten am Gängelband von Paris, an unseren Grenzen heulen preußische Schakale und österreichische Wölfe, und Jesus im Himmel: Seit dem Vogelschießen von Kamperduin sind wir eine Seemacht ohne eigene Marine! Die Engländer haben das Kap, die Koromandelküste und Ceylon erobert, ohne mit der Wimper zu zucken, und dass ihre nächste fette Weihnachtsgans Java heißt, ist klar wie Kloßbrühe! Ohne neutrale Schiffe wie» - er blickt verächtlich zu Kapitän Lacy - «diese Yankee-Brigg würde Batavia verhungern. In Zeiten wie diesen, Vorstenbosch, ist die einzige Versicherung eines Mannes ein Speicher voll mit handelsfähiger Ware. Aus welchem Grund, Herrgott noch mal, sind Sie sonst hier?»
    Die alte Walöllampe schaukelt und zischt.
    «War das», fragt Vorstenbosch, «Ihr Schlusswort?»
    Snitker verschränkt die Arme. «Ich pfeife auf Ihr Standgericht.»
    Kapitän Lacy entfährt ein gewaltiges Rülpsen. «Der Knoblauch, meine Herren.»
    Vorstenbosch wendet sich an seinen Sekretär: «Dann können wir wohl unser Urteil festhalten.»
    Jacob de Zoet nickt und taucht die Feder ein: «... Standgericht.»
    «Kraft der mir von Seiner Exzellenz P. G. van Overstraten, Generalgouverneur von Niederländisch-Indien, übertragenen Vollmachten spreche ich, Unico Vorstenbosch, designierter Faktor der Handelsstation Dejima vor Nagasaki, heute,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher