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Moerderische Familienbande

Moerderische Familienbande

Titel: Moerderische Familienbande
Autoren: Anne George
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1
    „Reiher-Luke ist hier“, murmelte meine Schwester Mary Alice, während sie sich neben mich in die vordere Kirchenbank schob. Sie drehte sich um und winkte kurz dem Brautführer zu.
    „Hat sie gesagt, Reiher-Luke ist hier?“, flüsterte Fred -mein Mann - mir ins linke Ohr.
    Ich nickte. Luke ist unser Cousin. Er stammt aus Columbus, Mississippi, und war immer mit uns am Meer, als wir Kinder waren. Die Übelkeit, die ihn beim Autofahren unweigerlich überkam, war so legendär, dass sie sich zu einem Running-Gag in der Familie entwickelte.
    Händeis Wassermusik erfüllte die Kuppel von Birminghams St. Mark's Episcopal Church.
    „Du siehst großartig aus“, raunte ich Mary Alice zu. Und das war nicht gelogen. Das dezent aschblond gefärbte Haar (sonst war es rosa!) und das lavendelfarbene Kleid verliehen ihr etwas geradezu Königliches. Außerdem mogelte das tunikaförmige Oberteil glatt 15 Kilo weg, was sie allerdings immer noch über 90 Kilo wiegen ließ. „Eins zweiundachtzig und mit ein paar hübschen Rundungen“, pflegte sie sich selbst zu beschreiben.
    „Hmmmm“, sagte Mary Alice mit einem musternden Blick. „Du siehst auch gut aus, Patricia Anne.“ Ein seltenes Lob. Ich strich über das blaue Chiffonkleid, Größe 36, das ich in The Petite Shop erstanden hatte. Mary Alice und ich werden ständig gefragt, ob wir wirklich Schwestern seien.
     
    Mary Alice will daraufhin gelegentlich wissen, was denn mit „wirklich“ gemeint sei, was den Fragesteller häufig in Verlegenheit bringt. Ich sage ihr immer, dass ich das geschmacklos fände, dass sie nach sechzig Jahren weiß Gott an die Frage gewöhnt sein und einfach mit Ja antworten sollte.
    „Was hast du denn in deinem Haar?“, fragte sie.
    „Poly Brillance sandblond. Das wäscht sich raus.“
    „Schade.“
    „Sag ihr, dass ich dein graues Haar mag“, flüsterte Fred. Ich überdachte das kurz und gab dann an meine Schwester weiter: „Fred mag mein graues Haar.“
    „Ha.“
    Händels Wassermusik überdeckte zum Glück meine Antwort.
    Mary Alice blickte sich um. „Findest du das Rosa der Blumen nicht zu dunkel?“
    „Absolut nicht. Sie sind wundervoll.“
    „Ich kann es gar nicht glauben, dass Debbie so eine Hochzeit feiert.“
    Mir ging es genauso. Meine Nichte Debbie Nachman, die Tochter von Mary Alice, ist eine erfolgreiche sechsund-dreißigjährige Anwältin und alleinerziehende Mutter zweier Zwillingsmädchen. Als sie und ihr Verlobter Henry Lamont an Weihnachten ihre Hochzeitspläne verkündeten, hätte niemand von uns Glanz und Gloria erwartet. Aber sie hatten uns an der Nase herumgeführt, und so saßen wir jetzt in der ersten Reihe von St. Mark's — mit mindestens dreihundert Menschen hinter uns.
    „Dieses Buntglasfenster sieht nicht richtig aus wie Jesus“, murmelte Schwesterherz.
    „Was hat sie gesagt?“, fragte Fred.
    „Sie sagte, dass das Buntglasfenster nicht richtig wie Jesus aussieht.“
     
    „Sie muss es ja wissen. Vermutlich kannte sie ihn.“
    „Was hat er gesagt?“, fragte Mary Alice.
    „Nichts.“ Ich blickte Fred mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mit ihren 65 Jahren ist Mary Alice nur fünf Jahre älter als ich. Und zwei Jahre älter als dieser Schlauberger zu meiner Linken.
    „Doch, er hat was gesagt. Er hat über mein Alter gelästert.“
    „Ignorier ihn einfach.“
    „Was hat sie gesagt?“, flüsterte Fred.
    Die Orgel leitete zur >Ode an die Freude' über, und die Menge raschelte erwartungsvoll. Die Seitentür ging auf, und Henry, der Bräutigam, und unser Sohn Freddie, sein Trauzeuge, kamen hinter dem Pfarrer herein. Sie sahen dermaßen gut aus, dass ich in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch kramte.
    „O Gott, sie haben beide Kaugummi im Mund“, zischte Mary Alice.
    „Was hat sie gesagt?“, fragte Fred.
    „Sie kauen Kaugummi, Fred!“
    Die beiden wandten uns ihr Gesicht zu. Freddie lächelte uns an, und wir machten alle drei wie verrückt Kaubewegungen. Einen Moment lang blickte er erstaunt drein, und dann sahen wir seinen Adamsapfel hüpfen, als er schluckte. Er stieß Henry mit dem Ellbogen an, und eine Sekunde später wanderte Henrys Kaugummi ebenfalls abwärts.
    „Cut“, nickte Mary Alice.
    Unsere Tochter Haley war die Erste vorn am Altar. Das rosafarbene Brautjungfernkleid war zwar nicht praktisch, aber äußerst kleidsam. Sein enges Mieder ließ ihre Taille unglaublich schmal aussehen, und die Farbe verlieh ihrer olivfarbenen Haut einen rosigen Schein.
    Mary Alices Tochter
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