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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Autoren: David Mitchell
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er berührte die bleierne Kugel, die noch immer im Buchdeckel steckt - «ihm das Herz zerfetzte. Die Wahrheit ist, dass wir - ich, dein Vater und auch du und Geertje - diesem Buch unser Leben verdanken. Wir sind keine Papisten: Wir schreiben krummen Nägeln und alten Lumpen keine Zauberkräfte zu, aber du weißt, dass dieses heilige Buch durch unseren Glauben fest mit unserem Stammbaum verbunden ist. Es ist ein Geschenk deiner Ahnen und eine Leihgabe deiner Nachkommen. Was dir in den kommenden Jahren auch widerfahren mag, vergiss eines nie: Dieser Psalter» - er berührte die Segeltuchtasche - «ist dein Ausweis, um nach Hause zurückzukehren. Davids Psalmen sind eine Bibel in der Bibel. Bete sie, befolge, was sie dich lehren, und du wirst nicht vom rechten Weg abkommen. Beschütze das Buch mit deinem Leben, auf dass es deine Seele nähren möge. Und nun geh, Jacob, und Gott sei mit dir.»
    «‹Beschütze es mit deinem Leben›», murmelt Jacob vor sich hin ...
    ... und ebendas, denkt er, ist mein Dilemma.
    Vor zehn Tagen, die Shenandoah ankerte vor Papenberg -benannt nach den Märtyrern des wahren Glaubens, die von den Felsen der Insel hinabgestoßen wurden -, hatte Kapitän Lacy den Befehl ausgegeben, dass alle christlichen Zeugnisse in einem Fass zu deponieren und bis zur Abreise der Brigg an die Japaner zu übergeben seien. Nicht einmal der designierte Faktor Vorstenbosch und sein Protegé de Zoet waren von der Anordnung ausgenommen. Anfangs murrten die Matrosen der Shenandoah , lieber würden sie ihre Hoden als ihre Kruzifixe hergeben, aber als die japanischen Inspektoren und die wohlbewaffneten Wachleute die Decks durchsuchten, waren sämtliche Kreuze und Christopherus-Anhänger in geheimen Winkeln verschwunden. Das Fass wurde mit Rosenkränzen und Gebetsbüchern gefüllt, die Kapitän Lacy eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte: Der Psalter der de Zoets war nicht darunter.
    Wie könnte ich meinen Onkel hintergehen , denkt Jacob sorgenvoll, wie meine Kirche und meinen Gott?
    Der Psalter liegt unter den anderen Büchern in der Seemannskiste, auf der er sitzt.
    So groß , beruhigt er sich, kann die Gefahr nicht sein ... Der Psalter enthält keine Zeichnungen oder andere Darstellungen, anhand derer er sich als christliche Schrift identifizieren ließe, und das Niederländisch der Dolmetscher reicht gewiss nicht aus, um alte Bibelsprache zu verstehen. Schließlich stehe ich im Dienst der Niederländischen Ostindien-Kompanie , denkt Jacob. Welche Strafe könnten die Japaner im schlimmsten Fall über mich verhängen?
    Jacob weiß es nicht, und die Wahrheit ist, Jacob fürchtet sich.
     
    Eine Viertelstunde verstreicht; Faktor Vorstenbosch und seine beiden Malaien sind nirgends zu sehen.
    Jacobs helle sommersprossige Haut brutzelt in der Sonne wie Speck.
    Ein Fliegender Fisch schießt aus dem Wasser und tanzt über die Oberfläche.
    «Tobiuo!», sagt der eine Ruderer zum anderen und zeigt auf den Fisch. «Tobiuo!»
    Jacob wiederholt das Wort, und die beiden Ruderer lachen so schallend, dass das Boot zu schaukeln anfängt.
    Ihr Passagier stört sich nicht daran. Er beobachtet die Wachtboote, die ihre Kreise um die Shenandoah ziehen, die Fischer mit ihren Fangkörben, ein japanisches Frachtschiff vor der Küste, gedrungen wie eine portugiesische Karacke, aber dickbäuchiger, das Vergnügungsboot eines Adeligen mit mehreren Begleitschiffen, verhängt in den Herzogsfarben Schwarz und Himmelblau, und eine Dschunke mit schnabelförmigem Bug, ganz ähnlich den Dschunken der chinesischen Kaufleute in Batavia ...
    Nagasaki, holzgrau und schlammbraun, wirkt, als wäre es zwischen den gespreizten Zehen der grünen Berge hervorgequollen. Die Gerüche nach Seetang, Reichtum und dem Rauch aus unzähligen Ofenrohren werden über das Wasser getragen. Die Berge sind fast bis hinauf zu den gezackten Gipfeln von terrassenförmig angelegten Reisfeldern bedeckt.
    Ein Wahnsinniger , denkt Jacob, könnte dem Glauben verfallen, er säße in einer gesprungenen Jadeschüssel.
    Das Ufer wird beherrscht von seinem Zuhause des nächsten Jahres: Dejima, eine von Palisaden umschlossene, künstlich angelegte, fächerförmige Insel, an der äußeren Krümmung gut zweihundert Schritte lang und etwa achtzig Schritte breit, schätzt Jacob, und wie ein Großteil Amsterdams auf Pfählen errichtet. Als er in der vergangenen Woche die Faktorei vom Vormast der Shenandoah aus zeichnete, zählte er rund fünfundzwanzig Dächer: die nummerierten Speicher der
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