Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
Vom Netzwerk:
das ich liebte.« Etienne machte eine kleine Pause. »Aber so war es nicht.«
    Bérénice beobachtete ihn, wie er zur Theke ging und nervös mit seinen dünnen, langen Fingern an der Waage herumnestelte. Mit diesen Händen hatte er Fleur festgehalten, auf den Boden gedrückt, als er sie vergewaltigte. Diese dünnen weißen Finger hatten sich um ihren Hals gelegt und langsam zugedrückt. Doch diese Hände hatten auch sie, Bérénice, gestreichelt, und er hatte sie seine Prinzessin genannt.
    Bérénice konnte sich nicht bewegen, das Entsetzen lähmte sie. Erst als Etienne auf sie zukam, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Rückwärts ging sie weiter zur Tür, Schritt für Schritt. Sie tastete nach der Klinke, drückte sie herunter, immer noch mit dem Blick auf Etienne.
    »Ich tue dir nichts«, erklärte der ironisch. »Du musst vor mir keine Angst haben. Ich bin ein alter, gebrechlicher Mann.«
    Ding, dang, dong.
    »Ich werde nicht zur Polizei gehen«, erklärte Bérénice. »Und das tue ich nicht für dich, sondern für Denise, für die Frau, die in diesem Moment des Grauens so viel Mut und Geistesgegenwärtigkeit besaß, um mich aus diesem Haus zu zerren.«
    »Ich weiß, dass du mir nie verzeihen und mich nicht verstehen kannst. Ich habe Fleur so sehr geliebt, ich habe sie so unendlich geliebt. Und auch dich.«
    Da flüchtete Bérénice aus der Apotheke und sah nicht mehr zurück.
    *
    Ihre Beine versagten. Sie war nicht weit gekommen. Sie schaffte es gerade noch die vier Stufen hoch und sank auf den Stein, an dem die Kunden der Apotheke ihre Hunde festbanden. Etienne hatte hinter ihr zugesperrt und das Schild
Geschlossen
in die Tür gehängt.
    Doch schnell erhob sie sich wieder und lief weg, weg von der Apotheke, weg von diesem Mann. Sie stolperte, fing sich und rannte um die Place de la Victoire herum, bis sie sich vor der Bank am Boule-Platz wiederfand.
    Den alten Pick-up, der langsam hinter ihr herfuhr, hörte sie nicht, bis der Wagen direkt in ihrem Rücken anhielt. Erst da drehte sie sich um.
    »Hippolyte«, flüsterte sie, »Hippolyte.«
    Er stieg aus, kam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Wortlos legte sie ihren Kopf an seine Schulter.
    Ewig, dachte sie, ewig soll dieser Moment dauern.
    Als sie endlich den Kopf hob, umschlossen seine Hände zart ihr verzerrtes, blasses Gesicht.
    »Was ist los, was ist passiert?«
    »Es war furchtbar«, brachte sie über die Lippen. »Aber wieso bist du hier, Hippolyte?«, fragte sie nach einer Pause.
    »Frank hat dich gesehen, da bin heruntergefahren. Ich umkreise schon die ganze Zeit den Platz, ich habe gespürt, dass ich dich hier treffe.«
    »Ich bin so froh, dass du da bist. Danke! Es ist so viel passiert.«
    »Komm, dann lass uns gehen! Das kannst du mir später alles erzählen.« Mit einem Arm umschloss er ihre Taille und führte sie zu seinem Wagen. Vorsichtig half er ihr auf den Beifahrersitz, da ihr immer wieder die Beine versagten.
    »Ich habe die Jacke vergessen. Ich habe die Jacke in der Apotheke liegen lassen, sie ist mir runtergefallen. Ich muss zurück, ich muss …«
    »Wir holen sie morgen, versprochen.«
    Hippolyte schnallte sie an, und Bérénice ließ es geschehen. Sie hörte nicht, wie sich Tristan auf dem Rücksitz mit lautem Gähnen ausstreckte, doch als er seine Schnauze zwischen die beiden Vordersitze schob, fuhr sie mit einem Schrei hoch.
    »Tristan, Platz!«, befahl Hippolyte dem Hund, der sich folgsam wieder auf dem Sitz zusammenrollte.
    »Ist Marie-Luise im
Maison Bleue?
« Bérénice’ Stimme klang fremd, spröde, eher wie ein Wispern.
    »Wir haben uns getrennt«, antwortete Hippolyte ruhig. »Den Hund kann ich behalten, vorläufig jedenfalls.«
    Er ließ den Wagen an und steuerte ihn in Richtung der Weinberge. Als sie auf der steinigen, schmalen Straße hochfuhren, schwiegen sie beide, aber Hippolytes rechte Hand lag fest auf dem Schenkel von Bérénice, die das Zittern ihrer Beine nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er warf ihr immer wieder einen besorgten Blick zu, doch sie wandte ihr Gesicht ab und starrte ins Leere. Am
Maison Bleue
angekommen, trug Hippolyte sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und ließ sie aufs Bett gleiten.
    »Ich mache dir einen heißen Tee, oder magst du eine Suppe?«
    »Geh nicht weg!«, stammelte sie und klammerte sich an ihn. »Bleib bei mir, bitte!«
    So legte sich Hippolyte neben sie, zog sie an sich, und eine Weile lagen sie ganz still da, bis Bérénice leise anfing zu erzählen. Immer wieder wurde sie von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher