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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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ausgelöst?
    »Hippolyte«, flüsterte sie, »Hippolyte.« Sie musste sich ihm anvertrauen, erzählen, was sie gesehen hatte oder was sie glaubte, gesehen zu haben. Sie suchte in ihrer vollgestopften Tasche nach ihrem Handy, doch dann zog sie ihre Hand langsam wieder zurück. Mehrmals hatte sie angerufen und nur Marie-Luise erreicht. Sie hatte um einen Rückruf gebeten, doch Hippolyte hatte sich nicht gemeldet.
    Die Häuser, die Menschen, alles verschwamm Bérénice vor den Augen. Ihr wurde schwindlig, und ihre Hände griffen ins Leere, als sie sich an der alten Laterne auf dem Platz festhalten wollte.
    Da hörte sie eine weibliche Stimme neben sich, die in besorgtem Ton fragte: »Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich helfen? Kommen Sie, ich bringe Sie in die Apotheke. Etienne Aubry kann Ihnen etwas geben oder einen Arzt rufen.« Die Stimme der Frau klang freundlich, und Bérénice fühlte sich fürsorglich am Arm genommen. »Wir sind gleich da.«
    »Ich möchte nicht in die Apotheke«, wehrte Bérénice die Frau ab, doch die hatte sie schon energisch untergefasst und führte sie Richtung Apotheke.
    Bérénice atmete tief durch, die Dunkelheit vor ihren Augen löste sich allmählich auf, und vor den Stufen blieb sie stehen.
    »Danke, es geht wieder, ich kann allein hinuntergehen«, versicherte sie und hielt sich am Geländer fest.
    »Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt«, erklärte die junge Frau. »Sie sind aber immer noch blass, soll ich Sie nicht doch begleiten?«
    »Nein, nein, es geht schon. Wirklich. Und vielen Dank.«
    Die junge Frau ließ Bérénice’ Arm los und verabschiedete sich. Bérénice sah ihr noch nach, atmete tief durch und wusste plötzlich, dass sie genau hierher wollte. Denn in diesem Moment erkannte sie, dass es zwei Menschen auf der Welt gab, die die Wahrheit jener Nacht kannten: Denise und Etienne.
    Denise verweigerte sich der Vergangenheit, aber hier, an dem Ort, an dem der Mord geschah, konnte sie Gewissheit finden, dass sie keinen Traum durchlebt hatte, sondern die Realität, die furchtbarer war als der schlimmste Alptraum.
    Einen Augenblick noch zögerte sie, dann stieg sie die Stufen hinunter und öffnete die Tür.
    Ding, dang, dong
, der heitere Klang der Türglocke.
    Frère Jaques dormez vous, dormez vous
 …
Ding, dang, dong
, ein Klang aus ferner Kindheit, einer Zeit der kindlichen Geborgenheit, die Erinnerung an einen Vater, der sie geliebt hatte, der sie verwöhnte und sie seine Prinzessin nannte.
    Bis Fleur kam und ihm sagte, das Kind sei nicht seine Tochter und sie wolle es wiederhaben. Bis alles ein grausames Ende fand. Und es war noch nicht vorbei …
    Bérénice wartete. »Hallo?«, rief sie. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, als sie sich umsah. Doch niemand antwortete, kein Laut unterbrach die Stille.
    Langsam durchquerte sie den Raum, ging die Stufen hinauf in die Wohnung. Sie stand jetzt direkt gegenüber der steilen Treppe, die zu den Schlafzimmern und dem ehemaligen Kinderzimmer führte. Hier hatte sie auf der letzten Stufe gesessen, das Gesicht an die Stäbe des Geländers gedrückt, und hatte einen Mord miterlebt, den Mord an ihrer eigenen Mutter. Doch in diesem Moment hatte sie keine Kraft, die Tür zum Esszimmer zu öffnen, und so drehte sie sich um und lief rasch wieder die Stufen hinunter in die Apotheke. Unbeschreibliche Angst ergriff sie und nahm ihr den Atem.
    »Was willst du?«
    Mit einem Schrei fuhr sie herum. Hinter ihr stand Etienne Aubry. Er stand direkt vor ihr, ein gebückter, hagerer Mann, der seit ihrem letzten Besuch noch mehr gealtert war. Er schien bis auf die Knochen abgemagert, die Haut wirkte schlaff und gelb. Hinter den dicken Brillengläsern sah er sie unverwandt an.
    In diesem Moment verstand Bérénice die Jahre seines Leidens, die Demütigung einer zurückgewiesenen Liebe, das Ertragen der Verachtung jener Frau, die er liebte und nach der er sich verzehrte. Er fand einen Ersatz, ein Ventil für seine Liebe: die Tochter. Doch dann kam jene Frau, um ihm sein Kind wegzunehmen. Er war hintergangen worden, betrogen und vielleicht sogar verlacht. Er hatte Rache geübt. Schreckliche, alles vernichtende Rache. Er hatte Fleur getötet, in einem Moment des aufgestauten Hasses und der seit Jahren ertragenen Erniedrigung. Bérénice konnte die Qualen seiner Einsamkeit und die Qualen seiner Schuld nachvollziehen. Und er teilte sie mit einem einzigen Menschen: mit Denise.
    »Was willst du?«, wiederholte er. »Habe ich dir nicht gesagt,
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