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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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sechs Wochen hatte Bérénice den Auftrag des Couture-Hauses Maxime Malraux angenommen. Hippolyte wusste, dass sie nur bezahlt wurde, wenn ihre Arbeiten dem Designer gefielen.
    »Soll ich dir einen Kaffee kochen?«, bot Hippolyte an, der plötzlich nicht mehr den Mut fand, über seine Entscheidung zu sprechen.
    Bérénice schüttelte den Kopf und hastete in das Schlafzimmer. »Nein danke«, rief sie über die Schulter, »ich habe vor einer Stunde geduscht und schon gefrühstückt.«
    Hippolyte antwortete nicht sofort. Er lehnte sich gegen den Türpfosten und sah seiner Frau zu, wie sie im Halbdunkel aus dem Bademantel schlüpfte, ihn auf das zerwühlte Bett warf und den schmalen Kleiderschrank öffnete. Das schwache Licht, das durch den Fensterladen hereindrang, gab ihrem blassen Gesicht einen schimmernden Reiz und umspielte die Konturen ihres schlanken Körpers. Rasch schlüpfte sie in ein schmales schwarzes Kleid und zog am Rücken den Reißverschluss hoch. Sie trug es, wenn sie in die Modehäuser ging, um ihre Arbeiten abzuliefern. Schwarz war die Farbe der internationalen Modeszene. Bérénice lief in das angrenzende kleine Badezimmer, fuhr sich mit der Hand schnell durch die kurzen dunklen Haare, legte etwas Rouge auf und zog mit einem tiefroten Stift ihre vollen Lippen nach. Dann kam sie zurück und griff hastig nach ihrer Handtasche und dem großen Karton. Wieder spürte Hippolyte, wie ihr ganzes Wesen von ihm fortstrebte.
    »Warum?« Er lief ihr nach, packte sie und grub seine Finger in ihren Oberarm. Bérénice blieb ruhig stehen, und so ließ er sie wieder los. »Ich
weiß,
ich bin schuld, ich
weiß,
ich hätte damals in dieser Nacht nicht nach Saint-Emile in die Kneipe gehen und unser Weingut verspielen dürfen. Ich
weiß,
ich hätte mich nicht betrinken sollen, und ich
weiß
auch, ich bin schuld, dass du in dieser Nacht …«
    Jedes »weiß« betonte er, und beim letzten Satz verlor er die Beherrschung und schrie seiner Frau das Wort ins Gesicht. Doch als Bérénice stumm blieb und nichts erwiderte, brach er den Satz abrupt ab und fuhr sich resigniert mit der Hand übers Gesicht. Für einen Moment zögerte Bérénice, dann wandte sie sich ab und öffnete die Wohnungstür. Doch Hippolyte stellte ihr noch eine letzte Frage, jene Frage, die ihn seit vier Jahren quälte: »Du kannst mir immer noch nicht verzeihen, nicht wahr?«
    Ohne sich nach ihrem Mann umzudrehen, antwortete Bérénice leise: »Nein, Hippolyte, nein, ich denke, das kann ich nicht.«
    Tiefe Hoffnungslosigkeit stand zwischen ihnen, bis Bérénice die Wohnung verließ und geräuschlos die Tür hinter sich zuzog.
    *
    »Wo ist sie, wo sind die Blumen? Wieso ist diese Frau noch nicht da? Hat sie verschlafen, hat man ihr nicht gesagt, dass ich die Blüten jetzt brauche, jetzt, sofort und nicht irgendwann, wenn es dieser Frau passt?«
    Als Bérénice die Stufen hinaufhastete, hörte sie bereits im Treppenhaus die männliche Stimme, die sich ungehalten über sie ausließ. Das musste Maxime Malraux sein, der legendäre Designer, den sie nur von Fotos kannte, denn sonst übergab sie am Empfang ihre Arbeiten einer Mitarbeiterin des Couturiers. Heute aber hatte sie sich verspätet, so hatte man sie hinauf ins »Allerheiligste«, das Atelier des Meisters, geschickt.
    »Entschuldigen Sie!«
    Außer Atem betrat Bérénice den hellen Raum mit seinen hohen Fenstern, den langen Arbeitstischen und den vielen Wandspiegeln. Hier stand Maxime Malraux, klein und zierlich zwischen Stoffrollen, Kleiderpuppen, Skizzen und Fotos. Alle Augen waren auf Bérénice gerichtet, und ihr Gruß wurde kaum erwidert. Schweigend beobachtete man, wie sie den Karton auf den nächststehenden Tisch schob, den Deckel öffnete und jede einzelne Blüte vorsichtig herausnahm. Jemand war ihr gefolgt, und als sie sich überrascht umsah, stand Maxime dicht hinter ihr. Seine dunklen Augen, umrandet von einem dezenten Lidstrich, weiteten sich in fassungslosem Staunen, als er jetzt so nahe vor ihr stand.
    Bérénice fühlte sich unbehaglich und entfernte sich mit einem kleinen Schritt möglichst unauffällig von ihm, während sie ihre Blüten auf dem Tisch ausbreitete. Sie spürte seinen intensiven Blick, der sie nicht loslassen wollte, und sie erschrak über die Blässe seines Gesichts und die Starrheit seines Blicks. Steif und mit einer langsamen Bewegung streckte er ihr die Hand entgegen, die sie nur zögernd nahm.
    »Wie heißen Sie?«
    Seine Stimme klang heiser, und Bérénice bemerkte,
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