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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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Spitze, aus der Denise das Brautkleid für die Arzttochter zuschneiden wollte. Eine Familie, beliebt und angesehen in der Stadt, ohne Sorgen, ohne schreckliche Geheimnisse. So hatte sie sich vor Jahren ihre Ehe und ihr Leben vorgestellt, als sie Etienne Aubry, den reichen und geachteten Apotheker heiratete. Doch es war anders gekommen. Auch jetzt noch, mit sechsundsechzig Jahren, musste sie sich ihr Geld mühsam verdienen, indem sie für andere Frauen nähte, stickte und ausbesserte.
    Denise schlüpfte in ihren dunklen Mantel, der über einem Stuhl hing, und ließ ihren Blick achtlos durch den Raum schweifen. Gleichgültig stellte sie fest, dass die Farbe an den dunkelroten Wänden bereits abblätterte und in den barocken kleinen Wandleuchten zwei Glühbirnen fehlten. Hier war sie aufgewachsen, zwischen Stoffrollen, Schnittmustern und Schachteln voller Knöpfe, bei ihrer Mutter Joselle, die auch schon für die »Damen der Gesellschaft« von Saint-Emile nähte. Und hier hatte sie nach der Scheidung ihre geliebte Tochter Bérénice großgezogen.
    Denise griff sich ans Herz, das nicht aufhören wollte, hart und heftig zu schlagen. Dann verließ sie entschlossen das Haus und sperrte hinter sich die Eingangstür zu. Die enge Rue Boursicault mit ihren niedrigen weißen Häusern war wie ausgestorben, und Denise’ Schritte verlangsamten sich, je näher sie der Place de la Victoire kam. Seit Jahren mied sie diesen kleinen runden Platz mit dem gotischen Rathaus, dem schmalen hohen Haus der Apotheke, dem Hotel Excelsior und dem alten Juweliergeschäft, in dem man seine Eheringe bestellte und das Tafelsilber putzen ließ. Denise ging am Café La Danseuse mit seiner roten Markise vorbei, das bereits geschlossen hatte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Schaufenster und erinnerte sich an den Duft von Biskuits, frischen Brioches und Schokoladenkuchen, als sie vor vielen Jahren jeden Samstag hier eine Torte gekauft hatte. Sie sah einige Leute, die in die Rue de la Galérie einbogen, um in die alte Rathauskneipe Cochon d’Or zu gehen. An den Samstagen kamen die Männer aus den Weinbergen in die Stadt herunter, verbrachten den Abend in der Gaststube, tranken ihren Pastis und fachsimpelten über die Trauben, das Wetter und den Mistral. In dieser Kneipe hatte Hippolyte vor vier Jahren gesessen und das Weingut seiner Eltern verspielt.
    Schritt für Schritt näherte sich Denise der Apotheke. Es musste schon spät sein, da der Platz ausgestorben dalag, doch in der Apotheke brannte noch Licht, und so drückte Denise die Türklinke hinunter und betrat den Raum.
    Nichts hatte sich verändert. Die hohen Regale standen an den mit dunklem Holz vertäfelten Wänden, davor die Medikamentenschränke mit den vielen kleinen Schubladen. Auch die weißen Porzellandosen, gefüllt mit Heilkräutern aus der Gegend, hatten ihren Platz immer noch auf der langen Theke. Dahinter stand Etienne Aubry, über die Waage aus Messing gebeugt, und war dabei, eine kleine braune Tüte mit Lavendelblüten zu füllen. Ein alter Mann in einem weißen Kittel, mit einem grauen, ungepflegt wirkenden Bart. Als sich die Tür öffnete, sah er hoch und starrte Denise aus ungläubigen Augen entgegen, während sie sich am Geländer festhielt und die drei Stufen herunterkam.
    »Guten Abend.« Denise’ Stimme klang hoch und ängstlich wie die eines Kindes.
    »Was willst du?«, fragte Etienne schroff, kniff die Augen zusammen und schob die kleine Brille auf die Stirn. Dabei fiel ihm die Tüte mit den Lavendelblüten aus der zitternden Hand.
    »Wir sind uns seit Jahren aus dem Weg gegangen«, begann Denise umständlich. »Ich glaube, es ist Zeit, dass wir miteinander reden.«
    »Das glaube ich kaum«, wies der Apotheker ihren Vorschlag hart zurück. »Ich wüsste auch nicht, worüber.«
    Denise’ Mund war ausgetrocknet, sie hatte das Gefühl, ihr würden die Sinne schwinden und sie müsse ohnmächtig auf den harten Holzboden fallen. Aus ihrem Kopf wich jeder Gedanke, jedes Wort, das sie sagen wollte. Etienne beobachtete sie, jede kleinste Bewegung. Sie krampfte ihre Hände um die Handtasche, die sie wie zum Schutz gegen die Brust gepresst hielt. Mit jedem Atemzug sog sie den Geruch der Vergangenheit ein, den Geruch nach altem Holz und Kräutern. Er erinnerte sie an den Tag, als sie zum ersten Mal diesen Raum betreten hatte und dieser Geruch ihr eine grässliche Übelkeit verursachte. Wie hatte sie ihn und dieses Haus gehasst, und wie sehr hatte sie im Laufe ihrer Ehe
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