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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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Weinkrämpfen geschüttelt, so dass sie Pausen machen musste. Sie zitterte wieder heftig, als sie den Mord schilderte und erzählte von dem Blut, das aus der Wunde an Fleurs Kopf quoll und auf dem Boden eine Lache bildete.
    »Etienne hat Fleur oben in die Felsspalte geworfen.« Einmal mehr ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Bérénice schluchzte, während sie weiter erzählte. Sie wollte jetzt über alles sprechen, was passiert war und was sie empfand. Sie erzählte auch von Maxime, Maxime und Fleur, von ihrem Vater und von Fleurs Brief an ihn. Auch von seinem Wunsch, sie zu treffen.
    »Jetzt, da er alt und einsam ist, sucht er den Kontakt zu mir. Damals wollte er mich nicht haben.«
    »Vielleicht konnte er nicht anders«, gab Hippolyte zu bedenken. »Und Fleur hat gewusst, dass er verheiratet war.«
    Bérénice war zu erschöpft, um zu widersprechen.
    »Es ist viel Zeit vergangen. Rede mit ihm, gib ihm eine Chance«, riet ihr Hippolyte, »dann kannst du immer noch eine Entscheidung treffen. Du musst jetzt erst einmal alles verkraften.«
    »Vielleicht hast du recht«, sagte sie, längst bereit dazu, ihren Vater wieder zu treffen. Denn er, Patrice, konnte ihr viel über Fleur erzählen, über Fleur, ihre Mutter.
    Hippolyte ging ins Bad und holte ihr ein leichtes Schlafmittel, das er in einem Glas Wasser auflöste und das sie trank. Endlich konnte sie sich entspannen, und während sie noch einmal von Etienne, der Pelzjacke und ihrer Erinnerung erzählte, die plötzlich wieder da war, glitt sie in einen unruhigen Schlaf.
    Hippolyte strich zart über ihre wirren Haare. Ihr Mund war leicht geöffnet, und auf ihrem blassen Gesicht zeichnete sich tiefste Verzweiflung ab. Da legte er sich neben sie und zog sie sanft an sich. Er lauschte auf die gequälten Seufzer, die über ihre Lippen kamen, und wachte über ihren Schlaf. Er umschloss sie mit seinem Körper, bis sie nicht mehr zitterte und ihre Atemzüge gleichmäßig wurden.
    Mitten in der Nacht wachte sie auf und fing an zu weinen. Doch als sie Hippolyte spürte und er mit seinen Küssen ihren Mund verschloss, beruhigte sie sich wieder. »Liebst du mich? Du hast es mir nicht gesagt«, murmelte sie. Da zog er sie heftig an sich und küsste sie wieder und immer wieder. Er liebte Bérénice und konnte ihr seine Liebe doch nicht gestehen. Sie schien ihm so groß, dass keine Worte diese Liebe ausdrücken konnten. Warum verstand sie das nicht?
    *
    Später in der Nacht schreckte Hippolyte aus seinem leichten Schlaf auf. Das Fenster stand weit offen, und als er sich aufrichtete, schien der Nachthimmel heller als sonst. Eine unruhige gelbrote Färbung, ein paar Wolken, die sich ballten und wieder auflösten. Hippolyte schob sich leise aus dem Bett und ging zum Fenster. Das Schrillen des Telefons ließ ihn zusammenzucken. Bérénice saß aufrecht im Bett. Er nahm den Hörer ab, sagte nur wenig, während Bérénice ihn anstarrte.
    »Was ist passiert?«
    »Das war die Polizei. Da wir noch verheiratet sind, riefen sie hier an und …«
    »Was ist los?« Bérénice spürte, dass er ihr Zeit geben wollte. »Hippolyte, was ist passiert? Hat Denise noch einmal … hat sie sich …«
    »Dein Vater, Etienne Aubry, hat sich mit Benzin übergossen und angezündet, nachdem er die Apotheke in Brand gesteckt hat. Als die Feuerwehr kam, war er bereits …«
    »Tot?«
    »Ja, Bérénice, er ist tot.«
    »Er hat sich selbst gerichtet«, sagte Bérénice tonlos. »Nach Jahren des Schweigens hat er selbst die Höchststrafe ausgesprochen und sie auch vollstreckt.«
    Hippolyte legte sich wieder zu ihr und hielt sie fest im Arm. So lagen sie schweigend und sahen hinaus in den Himmel, an dem Rauchfäden hochstiegen, und sie warteten, bis die Konturen der Berge sich im sanften Licht der Nacht verloren.
    Sie konnten nicht mehr einschlafen, und jeder horchte auf die Atemzüge des anderen. Als sich ein heller Streifen am Horizont zeigte und die Sterne verblassten, richtete Bérénice sich auf.
    »Lass uns hinauffahren«, flüsterte sie, »bitte.«
    Er sah auf seinen altmodischen Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Es war fünf Uhr.
    »Gut«, antwortete er.
    Sie standen auf, zogen sich schweigend an, und Hippolyte kochte Kaffee, den er in eine Thermoskanne füllte. Dann gab er Bérénice eine warme Steppjacke und dicke Stiefel, die so groß waren, dass sie noch Wollsocken anziehen musste, damit sie einigermaßen passten. Hippolyte pfiff Tristan, der sich nur widerwillig erhob und hinter
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