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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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Als Bérénice sie in diesem schäbigen Kleid auf der Bank sitzen sah, war sie froh, in den Galeries Lafayette für Denise Kleider, Schuhe und Wäsche eingekauft zu haben. Sie sollte sich unter den Bewohnern der Villa Emilia wohl fühlen und sich ihrer Kleidung nicht schämen müssen.
    Vor einer Stunde hatte Bérénice in der Verwaltung den Mietvertrag für Denise unterschrieben, die Kaution bezahlt und die Erklärung unterschrieben, alle zusätzlichen Kosten zu übernehmen.
    Daraufhin hatte sie Dr. Passot persönlich kennengelernt, der ihr bestätigte, dass die Villa Emilia die richtige Entscheidung für Denise sei. Diese werde im Moment wegen ihrer starken Depressionen medikamentös behandelt, aber leider verweigere sie jedes Gespräch über ihre Vergangenheit, bedauerte der Arzt. »Sie hat sich in einen Kokon zurückgezogen. Aber in der Residenz Villa Emilia wird Ihre Mutter von einer sehr guten Psychotherapeutin behandelt, die auf traumatische Erlebnisse spezialisiert ist«, hatte Dr. Passot abschließend erklärt. »Hier wird Ihre Mutter aufblühen und sich sehr wohl fühlen.«
    Ja, Denise, du hast es dir verdient …
    Hätte sie dem Arzt sagen sollen, dass Denise nicht ihre Mutter war?
    Und bin ich Dir nicht eine gute Mutter gewesen?
, hatte Denise in ihrem Abschiedsbrief geschrieben.
    »Ja«, murmelte Bérénice hinter der Glastür, »ja, Denise, du bist mir eine gute Mutter gewesen. Du hast mich beschützt, und du hast mich geliebt. Du hast mich unter finanziellen Entbehrungen großgezogen, und dafür danke ich dir. Und trotzdem weiß ich nicht, ob ich dich noch lieben kann. Du hast alles für mich getan, für mich, das Kind, das nicht dein Kind war. Du warst für mich eine Mutter, obwohl ich bereits eine Mutter hatte. Und ob ich dir dein Schweigen und deine Lügen verzeihen kann, das weiß ich nicht, Denise, ich weiß es einfach noch nicht.«
    Liebe kann verzeihen,
hatte Hippolyte gesagt. Doch liebte sie Denise genug, um ihr jemals zu verzeihen? Sie konnte nicht mit Denise sprechen. Noch nicht. Irgendwann vielleicht, jetzt nicht.
    Langsam drehte Bérénice sich um und ging den Gang zurück, den sie gekommen war.
    *
    Es war später Nachmittag, als Bérénice in der Rue Boursicault ankam. Vom Filialleiter der Bank hatte sie erfahren, dass Joselle Déschartes’ Haus abgerissen werden sollte, um einem Neubau Platz zu machen. Bérénice blieb vor dem Haus lange stehen und sah es an.
    Ein alter grauer Bau mit Fensterläden, deren blauer Anstrich abblätterte, und einem kleinen verwilderten Garten davor, in dem das Unkraut wucherte. Die ungepflegten Rosensträucher rankten sich inzwischen über fast das ganze Schaufenster des Modesalons Joselle, wie die Schneiderei immer noch hieß. Ein Haus, in dem die Frauen der Déschartes unglücklich gewesen waren und doch auch mutig um ihre Existenz und die ihrer Kinder gekämpft hatten.
    Es war gut, dass es abgerissen wurde, und es war die richtige Entscheidung gewesen, es nicht von der Bank zurückzukaufen. Langsam löste sich Bérénice von dem Anblick, ging zur Tür und schloss auf.
    In der verlassenen Schneiderei sah sie sich genauer um. Sofort fiel ihr auf, dass die alte Nähmaschine fehlte, an der Denise jahrzehntelang für die Damen der Stadt genäht hatte. Denise hatte ihre Tätigkeit immer als erniedrigend empfunden, nahm sie jetzt ausgerechnet die alte Nähmaschine, das Symbol für ihre Demütigung, mit ins neue Leben? Kopfschüttelnd stieg Bérénice die Wendeltreppe hinauf. In der Küche hatte sich nichts verändert, alles war noch an seinem Platz. Die wenigen abgeschabten Möbel, das Geschirr und die Töpfe würden in den nächsten Tagen in den Container wandern und auf der Müllhalde enden.
    Auch im Kinderzimmer hatte Denise nichts verändert und nichts mitgenommen. Flüchtig sah Bérénice sich um. Es gab keinen Gegenstand, den sie als Erinnerung haben wollte. Doch dann blieb ihr Blick an der Stoffpuppe auf dem Fensterbrett hängen, die ihr Denise zum sechsten Geburtstag gefertigt hatte. Gelbe Zöpfe aus Wolle, ein Gesicht mit gestickten Augen und einem roten Mund. Denise war enttäuscht gewesen, dass Bérénice nie mit dieser Puppe spielte. Mit einem letzten Blick auf sie schloss Bérénice die Tür, doch dann hielt sie in ihrer Bewegung inne.
    Auch diese Puppe würde im Müllcontainer landen. Da ging sie ins Zimmer zurück, nahm die Puppe und steckte sie in ihre Tasche.
    In der winzigen Diele fiel Bérénice auf, dass Denise das kleine Ölgemälde von
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