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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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der Brücke in Avignon mitgenommen hatte. Sie hatten es in einem kleinen Laden direkt an dieser Brücke gekauft, als sie gemeinsam dort gewesen waren. Seit Bérénice’ Kindheit hatte es hier gehangen, für Denise offenbar ein kostbares Stück Erinnerung, das sie ins Seniorenheim mitnahm.
    Es wurde bereits dunkel, und Bérénice überlegte, ob sie noch in das Schlafzimmer gehen sollte. Hatte sie dort nicht schon alles gesehen, als sie die Ordner durchgeblättert und das rote Poesiealbum gefunden hatte? Doch dann öffnete sie die Tür. Nur noch einen kurzen Rundumblick, nahm sie sich vor.
    Auf dem Bett lagen zwischen aufgetürmten zerschlissenen Kissen ein paar alte Zeitungen. Und neben diesem Durcheinander entdeckte Bérénice das Familienbuch. Wollte Denise es wirklich wegwerfen? Als sie näher kam, sah Bérénice den großen Zettel, den Denise auf das Buch gelegt hatte.
    Verwundert griff sie danach.
     
    Liebe Bérénice,
    heute bin ich noch einmal hier in diesem Haus, in dem ich mein Leben verbracht habe. Mein Leben, das nur durch Dich lebenswert gewesen ist. Ich bin froh, dass es versteigert und womöglich abgerissen wird, es hängen doch zu viele tragische Erinnerungen daran. Ich freue mich auf die Villa Emilia, und ich danke Dir, dass Du mir ein neues Leben in dieser schönen Umgebung ermöglichst. Hab mich immer lieb!
    In diesem Buch kannst Du noch einmal nachlesen, dass ich, Denise Aubry, Deine Mutter bin.
    Maman
     
    Kopfschüttelnd ließ sich Bérénice auf das alte Bett fallen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt. Denise wollte sie auch jetzt noch glauben lassen, dass sie ihre Tochter sei, eisern hielt sie diese Lüge aufrecht.
    Doch dann atmete Bérénice durch, nahm das Familienbuch und den Zettel und steckte beides in ihre Tasche. Sie musste sich beeilen, um den Sechs-Uhr-Zug nach Marseille zu erreichen. Mit der letzten Maschine wollte sie zurück nach Paris fliegen.
    Irgendwann, Denise, werden wir wieder zusammenfinden, ich verspreche es dir. Du musst keine Angst haben, ich werde dich lieben, trotz … Entsprach das der Wahrheit? Ja, dachte Bérénice, es war die Wahrheit. Doch sie brauchte noch Zeit.
    Ehe sie das Schlafzimmer verließ, ging sie zum Schrank, dessen Tür weit offen stand. Aber nach was sollte sie hier noch suchen? Sie hatte wenig Lust, den Berg alter Kleider und Schuhe durchzustöbern, den Denise auf dem Boden aufgetürmt hatte. Alles für den Container bestimmt.
    Offenbar hatte Denise nur wenige Sachen mitgenommen. Wie gut, dass sie in den nächsten Tagen mehrere Pakete von den Galeries Lafayette bekam.
    Ein letzter Blick streifte den Bettkasten. Irgendetwas reizte Bérénice, ihn zu öffnen. Zuerst klemmte er und ließ sich nur schwer herausziehen, doch dann schaffte sie es. Ein unglaubliches Durcheinander von Kissenbezügen und verstaubten Decken schreckte sie ab, auch nur mit einer Hand hineinzugreifen. Hier hatte Denise offenbar seit Jahren nichts mehr angerührt, es schien, als habe sie die Sachen in dem Kasten einfach vergessen. Doch bei näherem Hinsehen erkannte Bérénice ein haariges Etwas, eingewickelt in ein altes Leintuch. Mit zwei Fingern zog sie neugierig daran. Erst kam ein Ärmel zum Vorschein, und dann hielt Bérénice eine kleine Jacke aus kostbarem Chinchilla in der Hand. Staunend wendete sie die Jacke und stieß auf der Innenseite auf das Etikett:
Christian Dior.
    Dieser elegante Bolero hatte niemals Denise gehört. Als Besitzerin kam nur Fleur in Frage. Hatte Denise es von ihr bekommen? Aber warum hatte sie es dann versteckt? Offenbar hatte sie es vergessen, hatte es nicht weggeben können oder in ihrem Chaos nie mehr gefunden.
    Das Fell war weich und … Bérénice drückte die Jacke an ihr Gesicht und sog den zarten Duft eines orientalischen Parfums ein. Ihr Herz fing an zu klopfen, und sie schloss die Augen. Der Duft erinnerte sie an Fleur, an den Moment, als diese sich über sie beugte und sie aus dem Kinderwagen hob … Doch es gab noch diesen anderen Moment …
    Denise hatte sie in diesen Bolero gehüllt. Oder war sie selbst hineingeschlüpft? Das war an diesem Abend gewesen, als sie mit Denise aus dem Apothekerhaus lief, nein, Denise hatte sie mit sich gezerrt, obwohl sie keine Schuhe trug und ihre nackten Füße die Kälte des nassen Kopfsteinpflasters spürten. Steine rissen ihre Sohlen auf, und sie weinte, und sie rannte, rannte und weinte …
    Daran hatte sie sich schon einmal kurz erinnert, doch … Bérénice setzte sich
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