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Die Stunde der Schwestern

Die Stunde der Schwestern

Titel: Die Stunde der Schwestern
Autoren: Katja Maybach
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aufs Bett, die Pelzjacke in der Hand. Damals in jener Nacht, als Denise sie aus dem Haus zerrte, was war da passiert? Sie presste ihr Gesicht wieder in das Fell. Der Pelz war so weich, und er roch so gut, so wunderbar.
    Ja, sie war hineingeschlüpft und hatte neugierig auf der untersten Stufe der Treppe gesessen, um auf ihre Maman zu warten. Wie alt mag sie gewesen sein? Vier Jahre? War es, bevor sie so lange krank gewesen war?
    Jetzt wusste sie es wieder. Sie war eines Abends aufgewacht und hatte nach ihrer Maman gerufen. Doch Denise war nicht gekommen, und der kleinen Bérénice fiel ein, dass ihre Mutter ins Theater gegangen war. Aber Papa war ja da und würde auf sie aufpassen. Sie hatte sich gefürchtet, denn das Licht in der Diele war ausgeschaltet, obwohl Maman ihr doch versprochen hatte, es anzulassen, bis sie zurückkam. Oder war sie schon da?
    Bérénice war aus ihrem Bett geklettert und im Nachthemd in Mamans Schlafzimmer geschlichen. Doch das Bett war leer. Dann hatte sie die Tür zu Papas Zimmer geöffnet, doch auch er war nicht da. Ratlos hatte sie in der Diele gestanden, bis sie unten Stimmen hörte, die aus dem Zimmer kamen, in dem Großmutter Marguerite bis zu ihrem Tod gewohnt hatte. Vor einem halben Jahr hatte ihre Maman ein schönes Esszimmer daraus gemacht.
    Bérénice zitterte vor Kälte, doch ins Bett zurück wollte sie nicht mehr, lieber auf der Treppe warten, bis Maman nach Hause kam. Langsam war sie im Dunklen die Stufen hinuntergestiegen. Auf dem Treppenabsatz hing eine Jacke, die vom Geländer fiel, als Bérénice sie staunend berührte. Sie fühlte sich ganz weich an, und Bérénice schlüpfte hinein, da ihr doch so kalt war. Die Jacke roch sehr gut und war sehr warm, eigentlich war sie ihr ja viel zu groß, reichte bis zu den Knöcheln und weit über die Hände, doch Bérénice kuschelte sich hinein und setzte sich auf die letzte Stufe der Treppe, um auf ihre Maman zu warten, denn Papa hatte ja Besuch.
    Da wurde die Esszimmertür aufgerissen, und eine schöne Frau lief heraus. Ihr Oberkörper war nackt, und der enge Rock war hochgeschoben. Sie schwankte und hielt sich am Türpfosten fest.
    »Denise«, schluchzte und rief sie, »Denise!« Da packte Papa sie grob am Arm und zerrte sie ins Zimmer zurück. Bérénice’ Herz klopfte, und sie presste ihr Gesicht zwischen die gedrechselten Stäbe der Treppe, doch sie konnte, obwohl die Tür offen blieb, nichts sehen. Sie hörte nur ihren Vater, der schrie: »Du Lügnerin … du … du … du …« Die anderen Worte verstand Bérénice nicht. Sie hörte die Frau stöhnen und weinen. Bérénice zitterte und hielt sich voller Angst die Ohren zu. Lieber Gott, hatte sie gebetet, lass Maman doch kommen!
    Sie sollte besser nach oben gehen, bevor Papa sie fand. Leise drehte sie sich um und kroch auf Knien und Händen ein paar Stufen hoch. Da hörte sie einen erstickten Laut, dann einen verzweifelten Aufschrei, einen dumpfen Fall auf den Steinboden und ein Stöhnen, das in ein leises Wimmern überging. Starr hielt Bérénice inne, dann konnte sie nicht anders, als die paar Stufen zurückzuschleichen, so aufgeregt, dass sie fast über die lange Jacke fiel, die sie trug. Sie setzte sich wieder lautlos auf die unterste Stufe. Sie sah nicht alles, was im Zimmer vor sich ging, und hörte wieder einen erstickten Laut. Sie blinzelte, wollte nichts sehen, und doch presste sie ihr Gesicht an die Stäbe des Treppengeländers. Als sie einen gurgelnden Schrei hörte, riss sie die Augen wieder auf, und jetzt sah sie ihren Vater, der im Zimmer die Hände um den Hals der Frau gelegt hatte. Die Frau schlug mit den Armen, wimmerte, doch da nahm ihr Vater ihren Kopf und schlug ihn mehrmals auf den Steinboden.
    Bérénice bekam grauenvolle Angst, ein tiefes Entsetzen hatte sie gepackt, ihr wurde schlecht, sie musste würgen. Sie sollte schreien, rufen, doch sie brachte keinen Ton heraus.
    Die schöne Frau wehrte sich nicht mehr, ganz ruhig lag sie da, und ihr Kopf fiel zur Seite, als der Vater endlich von ihr abließ.
    Jetzt war es so still im Haus, so beängstigend still, dass Bérénice glaubte, der Vater könnte hören, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen. Starr saß sie da, rührte sich nicht und atmete kaum.
    Lieber Gott, lass Maman nach Hause kommen!
    Jetzt sah Bérénice, wie ihr Vater die schöne Frau hochhob und auf den langen Esstisch legte. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, ihr Gesicht der Tür zugewandt. Ihre starren Augen schienen auf das Kind gerichtet,
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