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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege
Autoren: Heimito von Doderer
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lange Zeit hier vor dem fast geleerten Teegeschirr sitze. Marie war wohl noch einmal dies oder jenes einzukaufen gegangen. Es rührte sich nichts, auch sie selbst blieb still. Und nun war eine gute Stunde vergangen, seit sie hier am Frühstückstisch sich niedergelassen und unter anderem an den Leutnant Melzer gedacht hatte. Etwas von der Sprödigkeit des Lebens war heute in ihr, als ein Wissen und eine Eigenschaft zugleich: wie doch alles so leicht springt, sie wußte es jetzt, das heißt sie hatte es in den Gliedern, dies Heikle, diese Bologneser-Fläschchen-Natur jeder guten Stunde, die da fällt und zu Staub wird. Sie wollte heute nichts anrühren. Ein ihr ganz fremdes Verhalten, sie rührte sonst immer was an oder rückte irgend etwas zurecht. Und eben jetzt hätte sie das tun sollen. Als die gespannte Stille platzte und mit Geklirr und Geklapper eine neue Situa tion aus ihr hervorsprang, da erkannte sie es. Ganz gleichzeitig erkannte sie es mit ihrem Aufstehen, das nicht vom Kopfe beschlossen worden war, sondern als eine unvermutete Eigenmächtigkeit ihrer Knie und Beine wie eine Welle von unten her durch ihren Körper lief, welche auf halbem Wege es fertig brachte, die Teekanne aus rotem Ton mitzunehmen, weil sich die Fransen eines Seidentuches, das Mary um die Schultern trug, in dem aus Bambusstäbchen geflochtenen Henkel verhängt hatten, wodurch aber auch die Tasse fiel und das ganze Tablett samt der silbernen Zuckerdose an den Rand der gleichen Möglichkeit geriet. Und, zum Resultat beruhigt, ergab der Tumult: auf dem Teppich lag die Tasse mit der Untertasse, anscheinend unzerbrochen, der Löffel hatte einen weiten Satz seitab getan; auf Marys Kleid war kein Tröpfchen des Tee restes in der Kanne geraten und der dunkel gezogene Tee hatte also keine Gelegenheit gefunden, hier eine nachhaltige Wirkung zu tun: aber er strebte danach, denn an den Fransen von Marys Seidentuch hing jetzt das Gefäß so sehr geneigt, daß die dunkle Flüssigkeit beinah den Rand erreichte. Mary sah das alles. Sie hörte zugleich von draußen, vom Vorzimmer her, den Schlüssel in der Wohnungstüre umdrehen, und so rief sie denn, ohne sich zu rühren und vorgebeugt so gut sie konnte, um ihren seltsamen Umhang von sich abzuhalten: Marie! Marie! Das Herbeieilen erfolgte, ein Erschrecken, ein Lachen, ein vorsichtiges Zugreifen und am Ende ein immerhin merkwürdiges Ergebnis: nichts war zerbrochen, nichts war befleckt, nichts war beschädigt.
    Aber die Substanz des Lebens gehorchte diesmal in Mary keineswegs einer scherzhaften Deklaration, unter welcher sie untergebracht werden sollte, sie weigerte sich dessen. Allein das ist der wahre Grund gewesen, warum Mary an diesem Vormittag nicht im schönen Liechtensteinpark spazieren ging, obwohl sie gerade das noch am Frühstückstisch sich gewünscht hatte, angesichts der vielen freien und verfügbaren Zeit. Jetzt indessen – wollte sie das gar nicht mehr riskieren. Hätte sie dies nun so bewußt und in Worten gedacht, sie wäre wahrscheinlich aus vernünftigem Widerspruch doch gegangen. Aber so weit kam es nicht. Sie blieb daheim, nicht aus einer Unlust oder Furchtsamkeit des Geistes, sondern aus einer Hemmung in den Gliedern.
    Es war auch schön hier daheim. Ihr gepflegter Haushalt umgab sie und durchdrang sie von allen Seiten. Es war ein vernünftig geleitetes Haus, wo nichts verschwendet und nicht an der falschen Stelle gespart wurde, dort, wo mit geringen Mitteln ein starker Effekt des Behagens erzielt werden kann: der Fünf-Uhr-Teetisch etwa zeigte immer zweierlei Getränk auf dem hübschen gläsernen Wagen, Kaffee oder Tee, je nachdem, wie eines grad gelaunt war, und ebenso Butter, wie Jam, weißes und schwarzes Gebäck; auf die Sorgfalt der Kinder konnte sich Frau Mary bereits verlassen und so blieb ein schönes Service im Gebrauche. Kam jemand unvermutet, dann stand er unter dem Eindrucke, gastlich erwartet worden zu sein. Man erwäge, ob sich der geringe Aufwand solchermaßen nicht in dem oder jenem Fall reichlich bezahlt machte. (Oskar erwog solche Sachen.)
    Es waren kluge Menschen, sie lebten offenen Sinnes nach allen Seiten, darum hörten und sahen sie was, und sie sperrten sich auch nicht gegen Gesehenes und Gehörtes, und es gab nicht (wie in gewissen ganz anderen Familien) verworrene Knäuel der Verstrickung in gehüteten finsteren Ecken. Und Grete Siebenschein kam gerne auf einen Sprung herauf und vertraute sich Mary in vielem an und war für deren Meinung und Rat sehr
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