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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege
Autoren: Heimito von Doderer
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unter gänzlicher Beiseitelassung jeder Kur und Rezeptur, ohne daß von diesen Herrschaften jemals sich jemand die Frage vorgelegt hätte, wodurch sie eigentlich immer so rasch und so viele Male im Jahr bei dem Obermedizinalrat Schedik von oft ganz verschiedenen hintereinander auftretenden Leiden genasen. Sie hielten ihn für einen außerordentlichen Arzt. Und das war er auch. Zudem ein hervorragender Schwiegervater: leider des schon genannten Herrn Kajetan von S. Einer von seinen Hochschullehrern, der den Doktor Schedik kannte, hat Kajetan gegenüber nach dessen Ehescheidung beiläufig und nachdenklich bemerkt: »Wissen Sie, Herr von S. auf die Frau ist allenfalls noch zu verzichten; aber der Schwiegervater bedeutet einen unersetzlichen Verlust.« Vom Vater Siebenschein aber, von jener Mutter, von der jüngeren Schwester Titi (welches Häkchen damals schon die Krümmung künftiger Bahn zeigte) trennte sich nicht lange nach dem ersten Weltkriege unsere Grete (ebenholzschwarzen Haars und klassisch geordneter Züge): nicht zuletzt auch, um den Ernährer der Familie zu entlasten, was er gar nicht wollte. Jedoch bildete sicher auch der periodische und pathologische mütterliche Festkalender ein treibendes Motiv: dem als retardierendes ein E. P. mit zu geringem Gewicht entgegenwirkte.
So kam Grete nach Norwegen. Die im Kriege neutral gebliebenen Staaten nahmen junge Österreicherinnen auf.
Sie hat sich redlich durchgebissen dort, und dabei trat zum ersten Mal ihre Persönlichkeit plastischer hervor, zeigte sich das Eigentümliche und Differenzierte ihres Wesens, da es an einer ganz anderen, an einer fremden und verhältnismäßig graden Umwelt sich maß. Sie blieb ihr gewachsen: was um so mehr heißen will, als sie aus einem zerrütteten und verarmten in ein geordnetes und vergleichsweise wohlhabendes Land gekommen war. Eine Deklassiertheit ganz allgemeiner Art drohte dort in der Fremde sozusagen täglich in eine spezielle, persönliche auszuarten; und das um so mehr, als Grete nicht durchgehends und immer so ganz in dem Berufe, dem Stande und Charakter zu bleiben vermochte, unter welchem sie da zunächst aufgetreten oder angetreten war: als MusikAkademikerin (sie hatte in Wien absolviert). Aber es konnte beim rein Pädagogischen nicht bleiben, die Möglichkeiten hiezu waren so dicht nicht geboten und die Ruhe von Warten und Wahl noch weniger. Grete spielte auch in einem Sporthotel zum Tanzen auf. Freie Station, geringer Lohn. Sie saß hinter dem Klaviere, die Damen und Herren (oder was sie schon gewesen sein mögen) unterhielten sich und tanzten. In nördlichen Ländern, solang' man nicht trinkt, ist die Oberfläche des Benehmens und der Erscheinung gleichmäßig gepflegter, die Rillen und Runzeln, welche die Stände trennen, liegen für den Fremden aus dem Süden nicht sogleich zu Tage, und wenn dazu die Sprache noch nicht oder erst mangelhaft beherrscht wird, so fehlen auch die Orientierungs-Marken des Bildungsmäßigen, das ja sonst, wenn auch kaum greifbar, doch ein international ergossenes Fluidum darstellt, nicht unverwandt der Bratensauce in den Speisewagen der großen Expreß-Züge, die vorlängst zwischen Biarritz und Paris, Bregenz und Wien, Mandschuria und Wladiwostok verdächtige Analogien zeigte, so daß man auf die unsinnige Vorstellung ver fallen konnte, sie werde in Röhrensystemen entlang der Strecken geleitet. So auch die Bildung. Spricht man jedoch nur wenige Worte norwegisch, so kann man auf dem Holmenkollen davon keine Probe nehmen. Aber Grete wurde in die Geselligkeit bald hineingezogen; man setzte irgendwen auf ihren Platz am Klavier, der da irgendwas irgendwie spielte (ein weniger heikler Punkt dort, zu jener Zeit jedenfalls noch). Es zeigte sich, daß Grete als Person und unmittelbar mehr zur Wirkung gelangen konnte als durch ihre pianistischen Mittel, die vielleicht bei einem Wiener Walzer zwischendurch einmal zogen, sonst aber in den damals allen Tanz beherrschenden Trotts und Steps verhämmert wurden. Freilich, sie war gut gekleidet. Und auf eine Art, die sich hier doch so ganz noch nicht durchgesetzt hatte, zudem in Einzelheiten wie auch in der Gesamt-Linie vielleicht überhaupt ihrer Vaterstadt verhaftet blieb. Es ist überdies für das ganze Leben eines Menschen ein entscheidender Ton im Eröffnungs-Akkord, wenn er aus einem berühmten Orte stammt, den jeder auf der weiten Welt kennt. Für hübsche Frauen sind da Paris oder Wien von besonderer Bedeutung und müheloser Folien-Wirkung; aber
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