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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege
Autoren: Heimito von Doderer
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von vornherein ein ganz anderes zu sein gehabt: über alles übrige ließe sich ja noch reden – ob jetzt heiraten oder nicht heiraten, oder erst später, ob einen praktischen Beruf ergreifen oder weiterstudieren, und dergleichen. An allem war der kleine E. P. eigentlich selbst schuld.
Er war es, der Grete mit René Stangeler zusammengeführt hatte, wenigstens von Frau Mary her sah das so aus. Denn was von ihr bei allen diese Sache betreffenden Überlegungen und Vorstellungen nie in Anschlag gebracht worden war und gebracht wurde, etwas, das sie gleichsam nicht mitdachte oder kaum mit dem gehörigen Nachdruck: das war die doch ganz unleugbare Tatsache, daß Grete Siebenschein den kleinen E. P. nie geliebt hatte. Und doch lag gerade dies wie auf der flachen Hand. Ein blinder Fleck für Mary. Hatte sie ihren Oskar geliebt? Ja – nein. Jetzt liebte sie ihn. Es erschien ihr als etwas, das sich ergeben hatte, nicht als eine Grund- und Vorbedingung. In ihrem tiefsten Innern sah sie darin nichts Entscheidendes, worauf man geradezu losgehen konnte, was man direkt ins Auge zu fassen hatte. Kein Bedingnis, sondern ein Bedingtes. Etwas Unselbständiges, das dann wohl hinzukommen würde und überhaupt nur hinzugegeben werden konnte; nie also konnte es den Ausgangspunkt von Handeln und Raison bilden. (So etwa käm's heraus, wenn man ausspräche, was Mary diesbezüglich mit sich führte als ein so sehr Selbstverständliches, daß sie es als ihr eigentümlich nicht mehr erkannte.)
Aber, daß hier von Seiten der ganz anders gearteten Grete Siebenschein jene Neigung nicht bestand, die man schlechthin Liebe nennt – Primzahl des Lebens, keiner Analyse bedürftig oder zugänglich – das lag ebenso klar wie der von dem kleinen E. P. gemachte Fehler, welcher damit als gar keiner mehr sich darstellt. Sonst wäre Grete nach dem Kriege nicht von ihm weg über Jahr und Tag ins Ausland gefahren, mochte es auch so geboten wie immer erscheinen. Denn ihr Vater, der Doktor Ferry Siebenschein, gehörte zu jenen Leuten, deren Anständigkeit so weit zu gehen vermag, daß die Familie dabei verhungert. In der ersten Zeit nach dem Kriege, ja, vor 1918 schon, wär's bald an dem gewesen. Es dürfte dieser Fall unter den Inhabern gutgehender Rechtsanwaltskanzleien zu Wien während jener Zeit beinahe einzig dastehend sein. Denn gerade dieser Berufsgruppe vermochten die mit ihrer Tätigkeit unweigerlich verbundenen zahlreichen Beziehungen zu anderen Menschen, ein maßvoller Austausch von Gefälligkeiten, ein an sich harmloser Handel unter der Hand, das Allernötigste immer wieder zu verschaffen, wenn nicht von Monat zu Monat, so doch von Woche zu Woche. In alledem erwies sich unser Doktor, Gretes Vater, als fast monströses Untalent, ja beinah als ein Bock mit unabänderlicher Vorliebe für die Richtung des größten Widerstandes. Grete liebte ihren Vater unter anderem auch deshalb sehr. Die Mutter Siebenschein aber geriet aus allen Zuständen in alle Zustände, nämlich in immer anders geartete, wozu es nicht einmal solcher Zeitverhältnisse bedurft hätte, denn die kleine, bewegliche Dame war von dämonischer Erfindungskraft auf dem Gebiete der Krankheiten, und wenn schon ihre Produktivität hier einmal nachließ, dann wurde die Lücke durch die ungewöhnlichsten Zwischenfälle geschlossen: sie brach oder verrenkte sich irgend ein kleines Glied, eine Zehe am linken Fuß oder den Ringfinger der rechten Hand und verstand es damit, auch in den Pausen ihrer eigentlichen Hervorbringungen – Schlaflosigkeit, Schüttelfröste, Geschwülste, oder einfach, um mit Johann Nestroy zu reden, ›Beklemmung mit Entzündung‹ – die Aufmerksamkeit der Familie bei ihrer Person zu halten. Daß der Doktor Ferry Siebenschein kein Arzt war, wirkte hier förderlich und ließ jedes neue pathologische Ereignis in voller Frische auftreten. Ärzte verhalten sich solchem Unwesen gegenüber bekanntlich kalt wie die Eiszapfen; und der Ober medizinalrat Schedik, dessen Patientin Frau Siebenschein allerdings viel später, nämlich 1927 geworden ist, pflegte, wenn er ein Mitglied der Familie traf, nicht zu fragen, »wie geht's der Mama?«, sondern ganz nebenbei »und was fehlt der Mama jetzt?«. Denn freilich, seit deren vorgest riger und letzter Anwesenheit in seinem Ordinationszimmer konnte immer noch ein ganz neues Krankheitsbild aufgetreten sein. Schedik, der nicht wenige Patienten von solcher Art um sich hatte, behandelte diese mit dem besten Erfolge rein psychologisch fast
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