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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege
Autoren: Heimito von Doderer
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ließ. Jetzt blieb eine gewisse Leere fühlbar; der Teetisch stand aber winters und sommers an der selben Stelle. Indessen fühlte man sich jetzt sozusagen weniger eingeschlossen. Marie hatte das Fenster gegen die lange Gasse zum Kanal hinunter zwar zugemacht, damit kein Staub hereinfliege und sich auf die Polituren der Möbel lege; aber draußen lehnte ein warmer Spätsommermorgen an den Scheiben, ein freundliches und gelindes Geöffnetsein allen Umkreises, leicht wasserdunstig und milchig neblig noch von der Morgenfrühe am Kanal her, ein Wetter mit viel Raum, offenem Hohlraum der Erwartung; und in der Mitte solchen Umkreises, der gedämpft die Geräusche städtischen Lebens ausbreitete, saß nun Frau Mary hinter ihrer Teetasse; das war die Hauptsache, denn das übrige Frühstück wurde mit großer Mäßigung dosiert. Nein, sie gehörte nicht zu jenen mit schlechtem Gewissen viel Schlagobers einnehmenden Gestalten in dem großen Café weiter unten am Donaukanal, das den wenigen Lesern einer späterhin noch zu erwähnenden sektionsrätlich Geyrenhoffschen handschriftlichen Chronik genauer bekannt geworden ist.
    Ohne weiteres ist klar, daß die K.'sche Wohnung denselben Grundriß haben mußte, wie die darunter liegende Siebenschein'sche: alle Räume lagen in einer Achse – vier große und ein kleiner Raum, was keinen üblen Prospekt ergab – bis auf das besonders ausgedehnte Schlafzimmer (bei Siebenscheins Gesellschaftsraum) und ein Kabinett von bescheidenen Maßen (unten des Doktors Arbeitszimmer). Die K.'sche Wohnung war also sehr groß (»ist als sehr groß anzusehen« – so hätte der Amtsrat Julius Zihal des Zentral-Tax- und Gebührenbemessungsamtes in dienstpragmatischer Sprache gesagt), denn unten hatte der Doktor Siebenschein ja auch sein Rechtsanwaltsbüro samt Wartezimmer untergebracht; und hier bei K.s gab es dafür nur um eine Person mehr (seit der Heirat Titi Siebenscheins – bis dahin war man im unteren Stockwerke ja auch zu viert gewesen).
    Das möbelhafte polierte Schweigen wurde nur von dem kleinen Geklapper Marys unterbrochen. Was sie wie am Grunde eines flachen Beckens, wie in einer Muschel und gleichsam präsentiert hier sitzen ließ, das war der Umstand, daß sie heute rein gar nichts vor hatte, ein seltener Fall. Der Tag hatte zudem, in beinah tendenziöser Weise vor ihr zurückweichend, noch obendrein Platz gemacht: Oskar sollte mit Geschäftsfreunden in der Stadt zu Mittag essen, und die Kinder waren von Verwandten zum Essen gleich nach der Schule und für den Nachmittag gebeten worden, in eine Villa in Döbling, ein Haus mit hervorragend schönem Park. Es gehörte dem Besitzer einer großen Bierbrauerei. Die K.-Kinder galten als gebildeter Umgang, welchen man den eigenen Buben und Mädeln gern zuführte; und wirklich waren diese beiden Kinder einigermaßen über dem Durchschnitt.
    Es blieb nur die Kahnfahrt mit Negria. Mary war für den frühen Nachmittag in Nußdorf mit ihm so gut wie verabredet. Dann würde es allerdings zu spät für das Tennis werden. Oskar seinerseits pflegte jetzt höchstens bis sechs Uhr auf dem Platze zu bleiben, wohin er an Tennistagen im Spätsommer gleich vom Büro aus nach kurzer Nachmittagsruhe sich begab.
    Sie hielt sich heute frei. Sie lehnte es lächelnd ab, die Vereinbarung mit Negria für bindend zu halten. Er konnte ebensogut allein fahren: und dann würde er wohl unweigerlich hier am Kanal anlegen oder, ganz seemännisch, ›festmachen‹, und heraufkommen, um zu sehen, wo sie denn geblieben sei. Er würde an Marie vorbei ins Zimmer eindringen. Mary lachte.
    Eben kamen die Taxis in Bewegung, fädelten nacheinander quer über den Fahrdamm. Der letzte Wagen, der mit den Hinterrädern sichtbar blieb, erzitterte noch ein wenig, und ebenso der erste, von welchem man nur die Vorderräder und die Haube des Kühlers sehen konnte. Damit war die lautlose Bewegung wieder zur Ruhe erstarrt.
    Aber all diese glaszart und gespannt wartende Dämonie der ruhenden Umgebung kam Frau Mary unter solchem Namen freilich nicht zum Bewußtsein. Jedoch als Frau besaß sie genug Tiefe, wenn schon nicht des Geistes, so doch des Geweids, um ihr Exponiertsein zu fühlen in dieser von allen Seiten heranstehenden Gegenwart, gleichsam auf diesem Präsentierteller sitzend, der als hell angestrahltes Scheibchen zwischen den Dunkelheiten des Vergangenen und des Zukünftigen dahin wandelte. Ein Blick auf ihr kleines goldnes Uhrarmband sagte ihr, daß sie schon eine ganz ungewöhnlich
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